Im Gespräch mit Jussi Adler-Olsen

Das Foto zeigt Jussi Adler-Olsen. © Foto: Jürgen Schmid, Kriminetz

Jussi Adler-Olsen hat zwar die 7 Fragen von Kriminetz schon einmal beantwortet, aber ihn anlässlich der Buchmesse noch einmal persönlich zu befragen, konnte ich mir natürlich nicht entgehen lassen. Soeben erschien mit Erwartung der fünfte Fall für Carl Mørk, er trägt den Untertitel Der Marco-Effekt. Marco ist fünfzehn Jahre alt und ein hellwaches Bürschchen. Leider hat ihm das Leben äußerst ungünstige Bedingungen zugelost. Er wächst auf in einem Clan, dessen Mitglieder von ihrem durch und durch verdorbenen Anführer Zola in die Kriminalität gezwungen werden. Erwartung ist aber auch ein Wirtschaftskrimi, er führt den Leser in einen Sumpf aus Korruption.

Kriminetz: Marco beherrscht einige Techniken, die ihm das Überleben auf der Straße sichern. Haben Sie jemand, der das gut kann, zur Recherche befragen können?

Jussi Adler-Olsen: Nein. Normalerweise recherchiere ich sehr genau. Aber in diesem Fall habe ich mir gedacht, ich selbst könnte auch ein guter Straßendieb sein. Daher habe ich versucht, mir vorzustellen, was ich in seiner Situation tun würde. Aus den Zeitungen und Dokumentationen kenne ich eine Menge Kniffe. Und ich lese auch eine Menge Bücher, in denen Verbrechen verübt werden. Es ist nicht einfach, einen Kriminellen wie Marco zu beschreiben, wenn man sich nicht in ihn hinein denken kann und nicht weiß, wie man sich durchschlägt. Aber weil ich weiß, wie das geht, brauchte ich daher hierzu überhaupt nicht zu recherchieren.

Marco denkt, dass er ein Rom ist. Aber er ist gar keiner. Das gibt mir die Gelegenheit, über eine Person zu schreiben, die nicht nur am Boden der Gesellschaft befindet – wie die Roma – sondern sogar noch weit darunter. Er hat keine Familie, keinen Rückhalt, keine Identität. Aber er hat große Hoffnungen für die Zukunft. Ich wollte mit Marco aus der Perspektive von ganz unten zeigen, wie ein Kind die dänische Gesellschaft sieht. Und ich wollte zeigen, wie Carl Mørk mit Marco umgeht. Denn ich wollte, dass Carl Mørk seine Einstellung ändert und etwas mehr Mitgefühl zeigt. Nicht sehr viel – aber genügend.

„Erwartung“ ist ein sehr dickes Buch, was es eigentlich gar nicht werden sollte. Aber während ich Marco war, hatte ich gar nicht genügend Zeit zum Schreiben. Daher habe ich sieben Wochen lang jeden Tag 12 Stunden geschrieben. In dieser Zeit war ich Marco und habe gefühlt wie Marco.

Ich hätte das dann natürlich auf 50 Seiten kürzen können. Aber das hätte keinen Sinn gemacht. Denn ich wollte, dass auch der Leser in die Rolle von Marco hineinschlüpft und zu Marco wird.

Und dann stellten die dänischen Kritiker fest, dass Marco ein moderner Oliver Twist ist. Obwohl Oliver Twist mein absolutes Lieblingsbuch ist, hatte ich das beim Schreiben gar nicht gemerkt. Und das war auch gar nicht meine Absicht. Aber natürlich ist es richtig: Zola ist Fagin und Marco ist Oliver Twist. Die gleichen Träume, die gleichen Hoffnungen, die gleichen Probleme! Daran hat sich seit 1837 nichts geändert. Die Frage ist jetzt: Wie können wir solchen Kindern aus dieser Situation heraus helfen und sie zu ihren Träumen führen? Darum geht es in diesem Buch.

Kriminetz: Gab es ein spezielles Ereignis, dass Sie zu diesem Buch geführt hat?

Jussi Adler-Olsen: Viele, sehr viele. Als ich zehn Tage in Dschungel von Kamerun war - wo es übrigens sehr gefährlich ist -, hatte ich die Idee, eine Verbindung zwischen Kamerun, dem korruptesten Land der Welt, mit Dänemark herzustellen, dem am wenigsten korrupten Land auf der Welt. Und dabei die Gesellschaft Dänemarks als kriminell darzustellen, während die Kameruner die Unschuldigen sind. Ich fand es lustig, das so umzudrehen. Und es gab viel, über das ich schreiben wollte: Das Bankensystem, die Korruption, die Ausplünderung armer Länder …

Kriminetz: Ein Zitat über Zolas Clan aus Ihrem Roman: „Sie hatten gute Jahre gehabt in Dänemark. Das Schengen-Abkommen … all das war für Zolas kriminelles Netzwerk von großem Vorteil gewesen. Ist der Zusammenschluss Europas diesen Preis wert?

Jussi Adler-Olsen: In vielerlei Hinsicht bin ich sehr stolz, ein Europäer zu sein. Das war ich auch schon, bevor der gemeinsame Markt eingeführt wurde. Meiner Meinung nach ist Europa der interessanteste Erdteil auf der Welt, weil die Länder so unterschiedlich sind. Und das liebe ich. Ich liebe die Unterschiede in den Landschaften, in der Kultur, im Essen und Trinken und auch in der Art des Schreibens.

Ich bin stolz, dass wir die Möglichkeit haben einen gemeinsamen Markt einzuführen aber mir gefällt nicht, wie er geworden ist. Denn jetzt versuchen wir so zu tun, als ob wir alle gleich wären. Und das mag ich nicht. Denn gerade aufgrund der Unterschiede haben wir so viele neue Ideen und eine solche Vielfalt.

Die Idee des gemeinsamen Marktes ist es, uns allen das gleiche Leben zu bescheren. Aber das funktioniert nicht. In Dänemark ist es z.B. kalt und wir müssen uns in unseren Häusern einigeln und können nur ein Mal im Jahr ernten. In Italien dagegen, z.B. auf Sizilien kann man drei oder vier Mal im Jahr ernten und sich immer im Freien aufhalten. Das ist eine völlig andere Lebensweise mit der auch ein ganz anderes Wertesystem und Preisgefüge verbunden ist. Meiner Meinung nach wird der gemeinsame Markt zusammenbrechen. In wenigen Jahren wird das Wirtschaftssystem einfach einstürzen.

Und außerdem verschwinden mit der Gleichmacherei auch viele kulturelle Errungenschaften. Da bin ich glücklich, dass wir in Dänemark noch immer die dänische Krone haben, weil sie ein Teil unserer Identität ist.

Der größte Fehler ist aber das Schengen-Abkommen! Denn jetzt haben wir die Grenzen nicht mehr, um den Leuten, die ins Land kommen, mal kurz in die Augen zu sehen. Diese offenen Grenzen ermöglichen sehr viele kriminelle Aktivitäten in Europa. Es ist zwar hübsch, dass wir uns ins Auto setzen können und in die Schweiz fahren ohne einmal an einer Grenze anhalten zu müssen. Aber ich mag es auch, wenn man anhalten muss und den Grenzwechsel zu spüren bekommt. Ein aufregendes Gefühl: Oh, jetzt bin ich in einem anderen Land!

Abgesehen davon, und das möchte ich betonen, liebe ich die Tatsache, dass wir gemeinsame politische Ansichten haben. Da möchte ich nicht missverstanden werden. Ich bin sehr stolz, ein Europäer zu sein und ich fühle mich auch als Europäer. Egal wo ich auf der Welt bin. Ich bin in erster Linie immer ein Europäer, nicht ein Skandinavier, sondern ein Europäer.
Das war eine sehr schöne Frage und das wurde ich zum ersten Mal gefragt.

Kriminetz: In Ihrem Roman sind die höheren Positionen mit Männern besetzt. Irgendwie sind sie alle „Welten von ihrer eigenen Jugend“ entfernt. Unser Wirtschaftssystem zwingt Männer zu einem Leben, das zur Selbstentfremdung führt, meist werden sie auch zeitlich von ihren Familien ferngehalten. Das scheint eigentlich wenig erstrebenswert zu sein?

Jussi Adler-Olsen: Genau aus diesem Grunde wurde ich Autor. Denn ich war vorher Top-Manager in einem Verlag und ich sah wie sich die Männer tot gemacht haben.

Ich wurde dann Autor, weil ich Zeit für mein Leben brauchte und mich mit meinem sechsjährigen Sohn beschäftigen wollte. Eierkuchen mit ihm backen, gemeinsam essen und anschließend Fußball spielen usw. Und genau deshalb gibt es mich noch. Denn sonst wäre ich schon vor Jahren gestorben.

Ich verstehe die Welt gerade nicht. Denn was ist denn das aktuelle Problem? Wir sind zu effektiv. Wir versuchen alles perfekt zu machen. Dabei sind so viele Dinge unnötig und könnten weggelassen werden. Wenn man eine Sitzung, eine Pressekonferenz oder ein Gesetz weglässt, das spielt doch keine Rolle.

Heute haben wir die Situation, dass jeder Arbeitplatz immer mehr Leistung verlangt. Und um die zu erbringen müssen wir immer mehr arbeiten. Aber wofür? Für ein zusätzliches Auto? Ich kenne so viele Frauen, die arbeiten nur für das zusätzliche Auto. Damit sind sie dann mobiler, verlieren aber das, wofür es sich wirklich zu leben lohnt, wie z.B. die Kinder aufwachsen zu sehen. Speziell die Männer verlieren eine Menge. Sie werden von sich selbst und ihrer Umgebung entfremdet. Doch das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass sie das nicht wissen oder dass sie das nicht kümmert. Das ist falsch. Daher hoffe ich, dass sich in der Zukunft alles entschleunigt. Ich auch. Denn mit dem Erfolg habe ich die gewonnene Zeit wieder gegen mehr Arbeit, mehr Rennerei, mehr Interviews, mehr Schreiben eingetauscht. Und das war dumm. Daher muss ich jetzt eine kleine Pause machen. In den nächsten fünf Monaten werde ich außer Schreiben und Spaß haben nichts machen.

Kriminetz: Macht es Sinn, Gelder für Afrika zu spenden, auch wenn Vieles doch nur in einem Sumpf der Korruption verschwindet?

Jussi Adler-Olsen: So eine schwierige Frage! Der beste Weg, jemandem zu helfen ist natürlich dazu beizutragen, dass in seinem Land etwas passiert. Wir haben nur deshalb so viele Einwanderer, weil die Leute in ihren Ländern keine akzeptablen Lebensbedingungen vorfinden und daher zu uns kommen, um hier ihr Glück zu versuchen.

Um die Situation in diesen Ländern zu verbessern, sollten wir wieder viel mehr Helfer auf lokaler Ebene vor Ort einsetzen die bei Themen wie z.B. Wasser, Ernte, Schulen usw. unterstützen und dann auch vor Ort entscheiden, in welche Projekte investiert werden soll..

Kriminetz: Sie widmen „Erwartung“ Ihrer Schwiegermuttter. Das ist eine ungewöhnliche Widmung, die ich zum ersten Mal in einem Buch lese. Wieso Ihrer Schwiegermutter?

Jussi Adler-Olsen: Meine Schwiegermutter ist jetzt 84 Jahre alt, sieht aus wie 70 und ist noch immer voller Neugier auf das Leben. Und sie interessiert sich auch dafür, was sich um sie herum tut. Und aus diesem Grunde ist sie gesund und lebensbejahend.

Ich bewundere sie auch vor allem dafür, wie sie mich in ihrer Familie aufgenommen hat. Meine Schwiegermutter hat die alte Art zu spielen in das Leben meines Sohnes gebracht, wie z.B. unter dem Tisch eine Hütte zu bauen. Sie ist nicht nur meine Schwiegermutter sondern auch die Großmutter meines Sohnes, der Mittelpunkt der Familie und sie liebt mich. Sie ist genau so fantastisch wie meine Eltern waren, die leider nicht mehr leben. Meine Mutter verstarb vor zwei Jahren im Alter von 96 Jahren. Und mein Vater war auch sehr alt.

Diese Widmung ist also mein Dank an meine Schwiegermutter für ihre Liebe zu mir und meiner Familie. Und sie hat sich sehr darüber gefreut.

Kriminetz: In Ihrem Nachwort erwähnen Sie Adlerolsen.dep. Wollen sie etwas darüber erzählen?

Jussi Adler-Olsen: Ich war früher Verleger und Redakteur. Und daher kenne ich die Probleme die die Verlage überall auf der Welt haben. Folglich habe ich mich entschlossen, nicht nur Autor zu sein, sondern auch jedem zu helfen, der mir hilft. Und dafür habe ich ein Unternehmen gründen. Ich brauchte eine Firma für alle die Leute, die mich meinem Alltag unterstützen, wie meine Assistentin und die, die sich um den ganzen Kleinkram kümmern. Aber das Unternehmen brauche ich auch für all die anderen Dinge, die ich neben der Schriftstellerei mache. Denn diesem Unternehmen gehören wieder andere Unternehmen, wie z.B. Adlerolsen.Energy, die Null-Enerige-Häuser bauen. Seit seiner Gründung vor zwei Jahren wurden dort Prototypen entwickelt um erschwingliche Häuser in jeder Größe zu bauen, die absolut keine Energie verbrauchen. Außerdem haben wir für die Favelas in Südamerika und die Hometowns in Südafrika – eigentlich für die ganze Welt – den Bau von ganz kleinen Häusern entwickelt, die praktisch nichts kosten und trotzdem gut isoliert sind und sich nicht zu sehr aufheizen. Daneben gibt es noch eine Firma, die Software für Kinder entwickelt.

Kriminetz: Vielen Dank, Jussi Adler-Olsen, für das Gespräch.

7 Fragen an Jussi Adler-Olsen

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Jussi Adler-Olsen im Gespräch mit Kriminetz. © Foto: Jürgen Schmid, Kriminetz
Das Gespräch zwischen Jussi Adler-Olsen und Kriminetz-Redakteurin Claudia Schmid war sehr lebendig! © Foto: Jürgen Schmid, Kriminetz
Die Frankfurter Buchmesse ist ein Ort der Begegnungen. Am Verlagsstand von dtv interviewte Kriminetz-Redakteurin Claudia Schmid den dänischen Autor Jussi Adler-Olsen. Foto: © Jürgen Schmid, Kriminetz
Haben am selben Tag Geburtstag: Jussi Adler-Olsen und Kriminetz-Redakteurin Claudia Schmid. © Foto: Jürgen Schmid, Kriminetz