Rekonstruktion eines Amoklaufs

Produzent Felix Parson und Regisseur Thomas Sieben stellen Ihre Film »Staudamm« vor. Foto: © Jürgen Schmid, Kriminetz.de

Gleich vorneweg: Der Film »Staudamm« von Regisseur Thomas Sieben der momentan auf dem Festival des deutschen Films in Ludwigshafen zu sehen ist, ist kein Krimi! In dem Film ist weder ein Amoklauf zu sehen noch wird ermittelt. Denn als »Staudamm« beginnt, liegt der Amoklauf schon über ein Jahr zurück. Trotzdem – oder gerade deswegen – möchte ich diesen Film (auch) jedem Krimifan empfehlen, der vom Kino mehr erwartet als Action, Spannung und Polizeiarbeit. Denn »Staudamm« vermittelt auf eindrucksvolle Weise Einblicke in die Welt all derer, die unmittelbar oder mittelbar von einer solchen Tat betroffen sind.

Es könnte überall sein

Eigentlich soll der eigenbrötlerische Roman (Friedrich Mücke) bei der Polizei in einem kleinen (fiktiven) Dörfchen im Allgäu nur die restlichen Akten zu dem Amoklauf von vor einem Jahr abholen, um sie für einen Staatsanwalt (Dominic Raake) einzulesen. Denn dieser hört sich solche Unterlagen lieber auf langen Autofahrten an, anstatt sie selbst durchzulesen. Doch dann verzögert sich die Herausgabe eines Teils der Akten und Roman muss mehrere Tage in dem Dorf bleiben. Gleich am ersten Abend lernt er Laura (Liv Lisa Fries) kennen und erfährt, dass Sie das schreckliche Ereignis selbst miterlebt hat. Gemeinsam besuchen Sie die Stationen des Amoklaufs: Die Schule, in der Lisas Schulkollege, Peter, Schüler und Lehrer erschossen hat. Das Haus, in dem Peter mit seiner Familie gelebt hat und das jetzt leer steht, weil die Familie mit neuer Identität woanders wohnt. Den Staudamm, an dem Peter von der Polizei gestellt und erschossen wurde.

Annäherung an das Unfassbare

Mit großer Ruhe und viel Feingefühl versucht der Film die Ereignisse aus den Augen eines Außenstehenden zu zeigen. Durch die von Roman eingelesenen Dokumente, Gutachten, Statistiken, Protokolle erfährt der Zuschauer viel über Amokläufe allgemein und die konkreten Ereignisse, die sie vor einem Jahr ereignet haben, im speziellen. Und das in einer objektivierten, völlig emotionslosen Juristensprache. Ganz im Gegensatz dazu stehen die emotionalen Gespräche zwischen Roman und Lisa, in denen die Aufarbeitung der unfassbaren Tat im Mittelpunkt steht. Trotz einer Psychotherapie hat Lisa selbst ein Jahr nach dem Ereignis weiterhin mit den traumatischen Folgen zu kämpfen. Sie besucht das inzwischen nicht mehr benutzte Schulhaus (der Unterricht findet seitdem in einem Containerbau statt) immer und immer wieder und macht massenweise Fotos.

Roman versucht zu begreifen, was damals geschehen ist. Und für einen kurzen Augenblick sieht er sich selbst in der Rolle des Amokläufers.

Filmgespräch mit Regisseur und Produzent

»Die Aufgabe von Romans Figur ist, sich in den Amokläufer zu verwandeln«, sagte Regisseur Thomas Sieben im anschließenden Filmgespräch auf dem Festival des deutsche Films. »Wir wollten zeigen, wie es heute in einem jungen Mann aussieht.« Denn das Empfinden vieler Menschen entspräche nicht der Werbung: permanent gut drauf, voll happy und ständig eingeladen. Ganz im Gegenteil seien doch viele auf der Suche nach ihrer Bestimmung und fühlten sich anders als die Anderen. Und so öffnet er mit Roman ein Fenster, durch das sich auch Einblicke in den Täter gewinnen lassen und erteilt damit dem Schwarz-Weiß-Denken eine Absage.

In dem Film geht es um das Zuhören, meinte Thomas Sieben, zuhören, was die Überlebenden sagen, was die Eltern sagen, was die Polizisten im Dorf sagen und eben auch zuhören, was der Amokläufer zu sagen hat. Nur so kann man die Motive des Amoklaufs erfassen und gesellschaftlich aufarbeiten. Denn Amokläufe habe es schon immer gegeben und sie seien in den letzten Jahren auch nicht mehr geworden, wies der ebenfalls anwesende Produzent Felix Parson hin, der sich ausgiebig mit den entsprechenden Statistiken auseinandergesetzt hat. Nur der Umgang mit dem Phänomen habe sich durch die modernen, extrem schellen Medien drastisch verändert. Bereits Minuten nach der Tat berichten Kamerateams. Doch irgendwann sind die wieder weg und zurück bleiben Täter und Opfer.

Dicht an den Fakten

Für den Film haben die Drehbuchautoren Christian Lyra und Thomas Sieben ausgiebig recherchiert und umfangreiches Material ausgewertet. So sind alle Aktentexte, die Roman einliest, umgeschriebene Aktentexte von dem Amoklauf in Erfurt aus dem Jahr 2002, wobei der »Bericht der Kommission Gutenberg Gymnasium« eine wichtige Quelle war. Außerdem wurde das Team von Psychiatern und Trauerbegleitern beraten.

Allerdings wurde einiges abgeschwächt und Details ausgespart, um den Film erträglich zu machen, erläuterte Thomas Sieben. In Wirklichkeit sei die Tat noch wesentlich grausamer gewesen. Doch gehe es in dem Film nicht darum, voyeuristisch und pornographisch die Tat zu zeigen, sondern darum, was zurück bleibt und wie die Menschen nach der Tat weiterleben können.

Unser Urteil: Absolut sehenswert!

Informationen zum Festival gibt es beim Festival des deutschen Films.

Roman (Friedrich Mücke) und Laura (Liv Lisa Fries) sind am Staudamm wo der Amokläufer erschossen wurde.
Foto: © Milkfilm
Filmgespräch: Julia Teichmann (Moderatorin), Thomas Sieben (Autor und Regisseur), Felix Parson (Produzent), Günter Minas (Moderator).
Foto: © Jürgen Schmid, Kriminetz.de