Sieben Fragen an Andreas P. Pittler

Das Foto zeigt Andreas P. Pittler. Foto: © Marketa Kwitkova

Der Schriftsteller Andreas P. Pittler lebt mit seiner Frau in Wien. An der dortigen Universität studierte er Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft, das Thema seiner Dissertation lautet: „Geschichte der Sozialistischen Jugend Österreichs unter besonderer Berücksichtigung des gesellschaftlichen Wandels der achtziger Jahre“. Zunächst hauptsächlich journalistisch und als Sachbuchautor tätig, wandte sich Andreas P. Pittler bald dem Krimischreiben zu. In seinen Krimis um Polizeioffizier David Bronstein verarbeitet er historische Ereignisse aus der Geschichte Österreichs.
Andreas P. Pittler veröffentlichte Biographien über Bruno Kreisky, Samuel Beckett und Monty Python. Er schrieb Bücher über die Geschichte von Malta, Zypern und die Tschechische Republik und einen Reiseführer zu Europas Kurbädern. In der Wiener Zeitung hatte er lange Zeit eine wöchentliche Kolumne. Zwei Jahre gehörte der Schriftsteller der Jury des Leo-Perutz-Preises der Stadt Wien als deren Sprecher an. Im Jahr 2004 erhielt Pittler das Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich.
Sein Roman Tinnef, erschienen im Echomedia-Verlag, wurde 2012 für den Friedrich Glauser Preis nominiert. Texte von ihm wurden in mehrere Sprachen übersetzt: ins Englische, Französische, Katalanische, Slowenische und Serbokroatische.
Andreas P. Pittler ist Mitglied im österreichischen P.E.N.-Club und im SYNDIKAT.

Für Kriminetz beantwortete Andreas P. Pittler sieben Fragen.

Kriminetz: Zu Beginn deiner beruflichen Laufbahn warst du hauptsächlich journalistisch tätig. Was findest zu spannender – Fakten zu recherchieren und darüber zu schreiben oder als Schriftsteller deiner Fantasie freien Lauf zu lassen?

Andreas P. Pittler: Also eigentlich lässt sich diese Frage gar nicht so einfach beantworten. Natürlich hat mich schon als Historiker die an sich verpönte Frage "was wäre gewesen, wenn …" fasziniert, gleichzeitig gilt das aber auch für jeden einzelnen Erkenntnisgewinn bei einer Recherche. Und mittlerweile denke ich mir, es ist der gelungene Mix, der es ausmacht. Habe ich längere Zeit an einem Roman und/oder einigen Kurzgeschichten geschrieben, dann macht es echt Spaß, zur Abwechslung ein Sachbuch zu machen. Und so sind in den letzten drei Jahren insgesamt zwölf Bücher von mir erschienen, von denen sechs belletristische Werke und sechs Sachbücher sind. Für mich selbst könnte ich mir jedenfalls nicht vorstellen, immer nur denselben Acker zu bestellen, wie das manche KollegInnen (durchaus erfolgreich) vorexerzieren. Wobei ich persönlich glaube, dass es genau diese Freiheit – zwischen den unterschiedlichen Genres changieren zu können – ist, die sich positiv auf mein Schreiben auswirkt, weil ich nie etwas schreiben muss, sondern immer gerade etwas schreiben darf (und daher auch kann).

Kriminetz: Dein Polizeioffizier David Bronstein ermittelt in Wien in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg. Was ist für dich das Faszinierende an dieser Epoche?

Andreas P. Pittler: Ehrlich gesagt habe ich einmal auf die Frage: "Warum schreiben sie historische Romane?" mit der Gegenfrage geantwortet: "Wieso glauben sie, dass diese Romane historisch sind?" Als Historiker weiß ich natürlich ganz genau, wie in Mitteleuropa in den späten 20er und frühen 30er Jahren Demokratie und Freiheit verspielt worden sind. Die Jahre zwischen 1900 und 1945 sind gespickt mit Tragödien unaussprechlichen Ausmaßes, mit unsäglichem Leid, einzigartigen Verbrechen und unbeschreiblicher Not. Doch all das kam nicht über uns wie eine Naturkatastrophe. Die Fehler, die zum Untergang der Demokratie führten, waren hausgemacht. Und diese Tatsache ist mir deshalb wichtig, weil die heutige Generation das schon wieder weitgehend vergessen oder verdrängt hat. Wie damals befinden wir uns in einer ernsten Krise, und wie damals wiederholen die verantwortlichen Politiker von Merkel über Hollande bis Obama die Fehler, die damals ein Brüning oder ein Briand machten. Wenn wir nicht aufpassen, dann wachen auch wir eines Morgens in einer Diktatur auf und wundern uns dann, wie es dazu kommen konnte. Natürlich werden sich die Ereignisse von damals nicht eins zu eins wiederholen, aber einzelne Beispiele in Ungarn, dem Baltikum oder Bulgarien (und jüngst in Griechenland) zeigen uns, das solche Dinge immer noch möglich sind. Genau davor will ich warnen, und das ist, wenn man so will, der pädagogische Teil meiner Romane, die auch genau deshalb contra-chronologisch (Bronstein wird von Roman zu Roman jünger) ediert wurden: weil man quasi immer tiefer graben muss, um an die Wurzel eines Problems zu kommen.
Und das Schöne an diesem Konzept ist, dass ich mit meinen Kriminalromanen auch Menschen erreiche, die nie ein Sachbuch lesen würden. Und wenn ich auf diese Weise meinen kleinen, bescheidenen Beitrag zur Aufklärung leisten kann, dann ist das für mich ein schöner Lohn.

Kriminetz: David Bronstein ist eigentlich Jude, bekennt sich aber zum Protestantismus. War das typisch für die Wiener Szene zu der Zeit?

Andreas P. Pittler: Zweifellos. Die Geschichte des Wiener Geisteslebens zu Beginn des 20. Jahrhunderts wimmelt nur so von Persönlichkeiten, die sich selbst niemals als "jüdisch" gesehen hätten. Victor Adler, Sigmund Freud, Egon Friedell, um nur drei zu nennen, wären nie auf die Idee gekommen, sich selbst mit dem jüdischen Glauben oder gar mit einer jüdischen Nation zu identifizieren. Victor Adler stand sogar zu Anfang seiner politischen Karriere den Deutschnationalen nahe. Aber das war in Deutschland ja nicht wesentlich anders. Schon Karl Marx oder Heinrich Heine haben sich keinen Deut um solche Klassifizierungen geschert. Erst der Nationalsozialismus hat aus all diesen Personen dann wieder "Juden" gemacht, was heute in der historischen Rückschau oftmals vergessen wird. Ich finde gerade das Schicksal dieser nicht gerade kleinen Gruppe besonders tragisch, denn als bekennender Jude (oder als Kommunist, Sozialist, Monarchist etc.) wusste man wenigstens, weshalb man verfolgt wurde. Aber diese Personen (man erinnere sich an Erich Collin von den "Comedian Harmonists") verstanden bis zuletzt nicht, weshalb man sie zu etwas machte, was sie nie sein wollten. Der großartige Rudolf Gelbard, der selbst im KZ saß, berichtet in einem seiner Werke davon, wie er mit genau solchen "Bronsteins" gefangen war, die den SS-lern gegenüber verzweifelt auf ihre Verdienste für die deutsche Kultur verwiesen, auf ihren Kriegsdienst und auf ihre preußischen Orden. Genau diesen "Verlorenen" wollte ich mit meinem Bronstein ein Denkmal setzen, denn sie werden selbst von antifaschistischer Seite allzu oft vergessen.

Kriminetz: Wie wichtig ist für dich der Dialekt in deinen Romanen?

Andreas P. Pittler: Ganz besonders vorrangig! Wien wird erst durch die spezifische Sprache, die hier gesprochen wird, unverwechselbar. Persönlich ärgere ich mich immer ein bisschen, wenn ich einen Roman lese, der angeblich in Wien spielt, und dann verlangen die Protagonisten ein "Brötchen" oder beißen herzhaft in eine Frikadelle. Das ist so die völlig abwegige Vorstellung, die irgendwelchen norddeutschen LektorInnen von einem gesamtdeutschen Sprachraum haben, und wo ich sage, so spricht in Wien kein Mensch – außer den vielen deutschen Gastarbeitern natürlich, die mittlerweile gleich den Türken und Jugoslawen auf der Suche nach einem Arbeitsplatz zu uns kommen. Mir aber geht es um Authentizität, und bei uns beißt man nun einmal ins "Fleischlaberl" und isst eine Semmel dazu, auch wenn das Rowohlt, Goldmann oder Piper hundertmal gegen den Strich gehen mag. Ja mehr noch, der "Wiener Dialekt" ist natürlich auch kein gesamtheitliches Idiom. Ein hochrangiger Beamter wird stets ganz anders reden als ein Briefträger. Ein Handwerker befleißigt sich anderer Ausdrücke als ein Nobelcafetier. Und wenn man realistische Romane über Wien und dessen Einwohnerschaft schreiben will, muss man genau diesen Umstand entsprechend berücksichtigen. Mein Vorteil ist es, dass ich im Gemeindebau – der Keimzelle des Wienerischen – aufgewachsen bin, durch meine Ausbildung aber auch mit anderen sozialen Schichten in Verbindung gekommen bin, sodass ich die verschiedenen Dialektebenen mittlerweile gut kenne. Und da ich ja schon zu den älteren Herren zähle, sind mir auch noch viele Dialektausdrücke bekannt, die mittlerweile praktisch ausgestorben sind. "Regardieren" beispielsweise (Beachtung schenken, vom französischen "regardez") würde heute kaum noch jemand verwenden, detto "Gablitzer" (für "dummer Mensch", nach dem seinerzeit in Gablitz beheimateten Ochsenmarkt), weil ja das Gros der Alltagskultur, mit der die heutige Jugend aufwächst, aus Deutschland kommt, sodass die jungen "Kids" eher "Manno" sagen als "na servas" und "krass" statt "leiwand".
Dieser Entwicklung könnte man vielleicht gelassen gegenüberstehen – immerhin entwickelt sich Sprache immer weiter, ohne dass man dies als "inkommodierend" empfinden müsste -, aber für mich schmilzt damit schon auch ein Teil meiner Jugend dahin, und vielleicht versuche ich genau deshalb, diese Ausdrücke vor dem endgültigen Aussterben zu bewahren.

Kriminetz: Zu Wien gehört a bisserl a Schmäh und der Tod ist ein Wiener. Halten diese Klischees in der Wirklichkeit stand?

Andreas P. Pittler: Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Klischees immer noch Teil der objektiven Wirklichkeit sind. Wo sonst beginnen die Leute schon bei der Verheiratung für ihr Begräbnis zu sparen? Auch gibt es wohl kaum irgendwo sonst so viele Sterbe- und Begräbnisvereine und –kassen (der schrägste ist wohl der "Feuerbestattungsverein DIE FLAMME") wie hier in Wien. Zudem kennt das Wienerische gefühlte hundert Synonyme für das Wort sterben – von "abbankeln" und "abdürren" über "vom Quiqui geholt werden" und "die Patschen strecken" bis zu "den Holzpyjama anziehen" und den "71er nehmen" (nach der Straßenbahn, die zum Friedhof fährt). Und ohne "Schmäh" würden wir unsere Stadt wahrscheinlich gar nicht aushalten. Wir finden ja immer etwas zu meckern (nicht umsonst geht der Ausdruck "mosern" auf unseren Hans Moser zurück), und wenn man nicht über die vermeintlichen Wechselfälle des einem so ungünstig gestimmten Schicksals wenigstens lachen könnte, dann würde man sich vermutlich recht bald "ins Pendel hauen" oder sich sonst irgendwie "die Schleife geben".
Aber gerade der Schmäh sorgt dann auch dafür, dass in Wien nichts so strikt ist wie in manchen Teilen Deutschlands. "Irgendwas geht immer" ist ein Trost, den man vielleicht in Kiel oder Rostock nicht hat. Außerdem – und da sind wir dann wieder beim Dialekt – bietet die exzessive Verwendung des Konjunktivs, für den die Wiener ja berühmt sind, die Möglichkeit, Dinge auszusprechen, ohne dass sie so hart und kompromisslos klingen, wie sie im Deutschdeutschen zwangsläufig klingen müssen. Ein "Du Arschloch" lässt keinerlei Deutungen mehr zu, aber ein "wenn ich dich nicht besser kennen würde, täte ich beinahe glauben, dass du ein kleines bisserl ein Arschloch sein könntest" lässt doch noch ein klein wenig Spielraum, die Sache irgendwie gütlich zu regeln. Der Konjunktiv hält uns Wienern die Türen offen, das Unverbindliche sichert uns ab. Sogar eine Liebeserklärung kann man auf diese Weise so formulieren, dass eine Zurückweisung unmöglich wird: "Manchmal täte ich fast glauben, es wäre möglich, dass ich mich ein kleines bisschen in dich verschauen könnt´". Fazit: wir Wiener arbeiten gerne mit Klischees, aber es ist ein Klischee anzunehmen, dass wir nicht darum wüssten, wann ein solches angebracht und wann Tacheles angesagt ist. Und als gelernter Wiener weiß man nicht nur um den Unterschied zwischen diesen beiden Polen, man versteht sich auch darauf, die sich zwischen diesen Polen befindlichen Spielräume auszunützen.

Kriminetz: Wien ist schon wegen seiner geografischen Lage ein Schmelztiegel der Kulturen. Hält das die Stadt lebendig?

Andreas P. Pittler: Naturgemäß ist man versucht, diese Frage zu bejahen. Doch in Wirklichkeit muss man an dieser Stelle eine Gegenfrage stellen: gilt das nicht mittlerweile für den gesamten deutschen Sprachraum? In welcher deutschen Stadt leben keine Türken, in welcher schweizerischen Ortschaft keine Albaner oder Italiener? Wien hat in dieser Hinsicht sicher eine wesentlich längere Tradition, bei uns wurden schon im Spätmittelalter mehrere dutzend Sprachen gesprochen, aber im Wesentlichen kann man sagen, Multikulturalität ist heute das Normale – man muss nur einen Blick auf die diversen Fußballnationalmannschaften werfen – ein Aleksander Dragovic und ein Marko Arnautovic bei uns, ein Gökhan Inler und ein Xherdan Shaquiri in der Schweiz, ein Mesut Özil und Jerome Boateng in Deutschland. Die Frage ist also, wie man damit umgeht. Und wenn man richtig damit umgeht, dann profitiert man natürlich auch davon. Ich persönlich sehe mich als "echten" Wiener, also als jemanden, der im Tschechischen genauso zu Hause ist wie im Serbokroatischen und auch im Türkischen. Und so wie das Wienerische viele Dialektausdrücke aus dem Tschechischen (Lepschi, Hadern, Feschak) und dem Jüdischen (Tacheles, Zores, Chuzpe) übernommen hat, wird es eines Tages vielleicht auch mit türkischen und serbischen Worten gewürzt sein. Das Wienerische kann dadurch nur bereichert werden.

Kriminetz: David Bronstein isst recht gerne. Trifft das auch auf seinen Erfinder zu?

Andreas P. Pittler: Glaubt man meiner Waage, dann: JA :-)

Vielen Dank, Andreas P. Pittler, für die Beantwortung der Fragen.

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