Sieben Fragen an Stephan Harbort

Deutschlands bekanntester Experte für Serienmörder und das kriminalistische Profiling, Stephan Harbort. Foto: © Peter Janeczek

Stephan Harbort ist Deutschlands bekanntester Experte für Serienmörder und das kriminalistische Profiling, langjähriger Lehrbeauftragter an der FH Düsseldorf, Dozent an der BTU Cottbus und Leiter eines Kriminalkommissariats beim Polizeipräsidium Düsseldorf. Der Kriminalhauptkommissar entwickelte international angewandte Fahndungsmethoden zur Überführung von Serienmördern und ist Fachberater bei Kino-Filmen, TV-Dokumentationen und Krimi-Serien. Seit Mitte der 1990er Jahre führte er Interviews mit mehr als 70 verurteilten Serienmördern in Justizvollzugsanstalten und psychiatrischen Krankenhäusern. Stephan Harbort wurde durch seine zahlreichen TV-Auftritte bei Fernsehgrößen wie Frank Elstner, Günther Jauch oder Johannes B. Kerner einem breiten Publikum bekannt und war Hauptdarsteller in diversen TV-Dokumentationen und Reportagen. Seine Bücher sind kriminalistische Bestseller und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Am 23. Januar 2014 startete in Deutschland und Österreich der Kinofilm Blick in den Abgrund mit Stephan Harbort in einer Hauptrolle. DVD-Start ist am 23. Mai 2015. Er lebt mit seiner Familie in Düsseldorf.

Das Hannibal-Syndrom, auf das sich die Kriminetz-Fragen beziehen, ist sein bekanntestes und erfolgreichstes Buch.

Für Kriminetz hat Stephan Harbort sieben Fragen beantwortet.

Kriminetz: Was unterscheidet grundsätzlich, abgesehen von der Anzahl der Straftaten, einen Serientäter von jemand, der „nur“ einmal mordet?

Stephan Harbort: Königsfrage, Volltreffer! Eine Unterscheidung über die bloße Anzahl von Taten ist grds. nicht möglich, weil viele Einmal-Täter weiter gemordet hätten, wären sie nicht vorher gefasst worden. Unterscheidungserheblich ist die die Täter-Opfer-Beziehung. Während der gewöhnliche Mörder eine Beziehungstat realisiert (und durch die Tötung des Opfers sein Problem aus der Welt schaffen will), richten sich die Taten von Serienmördern (überwiegend) gegen fremde Personen. Durch die Taten werden zwar Bedürfnisse befriedigt, doch die Pathologie des Täters bleibt unangestastet. Festgelegt wird der mörderische Habitus letztlich durch drei Komponenten, die psychopathologischen, emotionalen oder kognitiven Ursprungs sind, den Täter initiativ werden lassen und die Matrix seines deliktischen Handelns darstellen: Wiederholungsdrang, Wiederholungsreiz, Wiederholungsnotwendigkeit. Jeder Täter ist auf eine dieser bewußtseinsdominanten Teilkräfte fixiert, verinnerlicht und akzeptiert sie schließlich als Handlungsmaxime, kann oder will sich nicht davon lösen. Und noch ein Aspekt erscheint mir in diesem Zusammenhang wichtig: Ich habe mal mit einem dreifachen Raubmörder gesprochen, ein Drogensüchtiger, der sagte mir: «Die erste Tat war für mich ein Schlüsselerlebnis, ich hab mich so stark und mächtig gefühlt, weil ich zum ersten Mal eine Situation hatte, wo nur ich entscheiden konnte. Über Leben und Tod! Danach war ich drei Tage lang wie im Rausch und habe die Menschen nur noch als Opfer und Nichtopfer betrachtet.» Er hat im Zuge seiner mörderischen Karriere eine soziale Identität entwickelt, sah sich als jemand, der über Leben und Tod entscheiden konnte. Er war dadurch eben kein Versager mehr, sondern jemand, der Macht ausübt. Verkürzt könnte man es so sagen: Der Versager ist tot, es lebe der Mörder! Das ist eine Erfahrung, die viele Täter prägt, unabhängig davon, welches Motiv sie vordergründig verfolgen.

Kriminetz: Sind Serientäter oftmals gute Schauspieler, die ihr Umfeld über ihr „wahres ich“ zu täuschen vermögen?

Stephan Harbort: Gute Schauspieler? Das kommt gelegentlich wohl vor, erklärt aber nicht, warum es nach der Festnahme eines Serienmörders immer wieder heißt: „Aber der war doch so nett. Das hätten wir dem nie zugetraut!“ Auch im Familienkreis der Täter sind die Reaktionen sehr ähnlich. Die Ursache für dieses Phänomen ist in erster Linie auf das Sozialverhalten der Täter zurückzuführen. Sie erleben sich selbst als Loser. Die mitunter verschrobenen Vorstellungen und handfesten Erfahrungen der eigenen Unzulänglichkeit bedingen ein sozial abweichendes Verhalten. Wer sich als anders oder gar abartig empfindet, scheut die Gemeinschaft. Denn dort drohen (vermeintliche) Entlarvung, Entmachtung, Enttäuschung und Erniedrigung – eine von vielen Tätern gemachte leidvolle Lebenserfahrung. Nicht wenige mehrfache Mörder sind ausgesprochene Einzelgänger. Ihr Sozialverhalten wird dominiert von Orientierungslosigkeit, Bindungsschwäche, geringem Durchsetzungsvermögen, fehlender Konfliktbereitschaft und einer passiven, manchmal auch feindlichen Grundeinstellung. Heimisch werden sie nur dort, wo sie sich und ihre abgründigen Bedürfnisse bzw. entsprechende Verhaltensweisen nicht erklären müssen. Die sozialen Kontakte sind oberflächlich, blass, stumpf, manchmal gar nicht existent. Obwohl sich der überwiegende Teil der Täter nach Geborgenheit und Zuwendung innerhalb einer sozialen Gruppe sehnt, bleibt es dennoch in den meisten Fällen lediglich bei zaghaften Annäherungsversuchen. Ausschlaggebend für diese Vereinsamung sind in erster Linie vorherige Kränkungen, Misserfolge oder Versagenserlebnisse: in der Familie, in der Schule oder im Berufsleben. Oftmals kommt alles zusammen. Die Angst vor der drohenden oder befürchteten Stigmatisierung führt häufig auch zu einem auffällig angepassten, nicht selten sogar überangepassten Sozialverhalten. Allerdings lassen die Täter keine echte soziale Nähe zu, sondern verstecken sich hinter der Maske des Biedermanns.

Kriminetz: Weshalb werden so gerne „Monster-Schlagzeilen“ in den bunten Blättern gelesen und steigern deren Auflage? Was genau spricht das in den Leserinnen und Lesern an?

Stephan Harbort: Mir wird auch häufig eine Faszination für Serienmörder unterstellt bzw. angedichtet (na klar: wer sich so lange mit diesen Tätern beschäftigt, der muss doch …). Tatsache aber ist: Ich bin an Tatorten gewesen, die sehr unappetitlich waren, ich habe an Obduktionen teilgenomnen, die sehr unschön waren, und ich habe Todesbotschaften überbringen müssen. Wer das kennt bzw. erlebt hat, kann an diesen Dingen nichts Faszinierendes finden. Die Faszination für das Verbrechen – insbesondere Serienmörder, die alle Konventionen sprengen – entsteht aber nur, weil der normale Mensch sich von besonders grausamen Verbrechen und Verbrechern durchaus angezogen fühlt, er aber verständlicherweise über kein Spezialwissen verfügt. Die Leerstellen der Verbrechen werden zwangsläufig gefüllt mit Pseudowissen, das in der Regel aus populären Quellen stammt und die Täter besonders abgründig, abstoßend und geheimnisvoll darstellt (Hannibal lässt grüßen!) – und aus diesen Umständen wird eine gewisse Faszination gespeist. Was mich persönlich am Phänomen Serienmord interessiert (man könnte auch sagen: fasziniert), ist die Möglichkeit, aus der Arbeit an und mit diesen Tätern Ermittlungsmethoden zu generieren, die dazu beitragen, solche Verbrecher schneller aus dem Verkehr zu ziehen.

Kriminetz: In Krimis wird gerne mit dem Klischee des hyperintelligenten Serienmörders gespielt. Hält dies einer empirischen Untersuchung stand? Sind Serienmörder wirklich klüger als der Durchschnitt?

Stephan Harbort: Tja, dieses Märchen geht auf Untersuchungen des FBI in den 1980er Jahren zurück und darauf folgende unkritische bzw. übertriebene Darstellungen in den Medien, selbst beim „Spiegel“. In der genannten Untersuchung gab es zwar einige hochintelligente Täter, nur waren es vergleichsweise wenige – die aber für eine publikumswirksame Schlagzeile herhalten mussten. Ich habe in meinem Untersuchungen festgestellt, dass das Intelligenzniveau der Serienmörder dem der Normalbevölkerung entspricht: 100. Es gibt sicher sehr intelligente Täter, die ich auch persönlich kennengelernt habe, es gibt etwa genauso viele dumme Mörder, aber das Gros der Serientäter (65 Prozent) ist so schlau wie du und ich.

Kriminetz: Sind Sie im Rahmen Ihrer umfangreichen Forschungsarbeit auch auf zu Unrecht Einsitzende gestoßen?

Stephan Harbort: Das will ich nicht sagen. Aber es kommt immer wieder mal vor, dass Serienmörder neben den tatsächlich verübten Taten auch solche gestehen, die sie nicht begangen haben, weil sie sich davon juristische bzw. andere Vorteile (zum Beispiel Ausfahrten zu vermeintlichen Tatorten) versprechen oder die Ermittler an der Nase herumführen wollen. Man muss diesen überaus verschlagenen Menschen mit größter Sensibilität und Vorsicht begegnen, sonst erlebt man ein böses Erwachen.

Kriminetz: Vieles, was Sie in Ihrem beruflichen Alltag erleben, ist verdammt „harte Kost“. Wie schaffen Sie es, diese hässlichen Facetten des Menschseins zu verarbeiten?

Stephan Harbort: Ja, das stimmt; was ich erlebe, ist nicht immer ganz einfach zu verkraften – besonders die Schicksale der Opfer und ihrer Angehörigen sind dramatisch. Ich verarbeite diese Ereignisse und Erlebnisse literarisch, das befreit ungemein. Nach jedem Interview spreche ich meine Empfindungen auf ein Diktiergerät. Wenn ich fertig bin, habe ich mich ausgesprochen, da bleibt nichts übrig. Wenn das alles nichts bringt, nehme ich die Hilfe meiner Frau in Anspruch und rede mit ihr. Mir ist sehr bewusst, dass es keinen Sinn macht, den unantastbaren Helden spielen zu wollen, dem nichts etwas anhaben kann. Das haben andere vor mir versucht und sind schlimm gescheitert.

Kriminetz: Eins Ihrer Bücher heißt „Wenn Frauen morden“. Im Rahmen des Besuchs einer Justizvollzugsanstalt, an der ich teilnahm, wurde berichtet, dass der Anteil der in solchen Anstalten verwahrten Frauen erheblich geringer ist als der von Männern. Warum ist das so? Werden Frauen weniger häufig zu Tätern? Oder lassen sie sich nicht erwischen?

Stephan Harbort: Noch so eine spannende Königsfrage, die bislang niemand schlüssig beantwortet hat. Aber Sie haben Recht, und die Statistiken weltweit lügen nicht: nur etwa 20 Prozent der Mörder sind Frauen. Weil es keinen universellen Erklärungsansatz gibt, muss man derzeit noch Fragen stellen, um sich den Problemstellungen zu nähern: Sind Frauen vielleicht weniger kriminell, weil sie anders gebaut sind, anders fühlen, anders denken und auch eine andere Sexualität haben? Töten Frauen nur deshalb seltener, weil ihnen bei der Anwendung von Gewalt natürliche Grenzen gesetzt sind? Sind Frauen eventuell von Natur aus weniger aggressiv? Oder hat die Feministin Simone de Beauvoir Recht, wenn sie schreibt: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht.“ Werden Frauen in soziale Handlungsspielräume hineingezwängt und dort von ihren sozialen Pflichten als Ehefrau und Mutter gebunden und so von kriminellem Tun abgehalten? Oder lassen ihnen die engen Strukturen in der Familie kaum kriminelle Entfaltungsmöglichkeiten, weil sie einer stärkeren Sozialkontrolle unterworfen sind? Werden Frauen auch in ihrer Kriminalität von Männern unterdrückt? Manifestiert sich das im Gegensatz zum Mann eher passive weibliche Sozialverhalten und das (angeblich) weniger ausgeprägte Verlangen nach Selbstverwirklichung in geringer ausgeprägter krimineller Energie? Oder neigen Frauen weniger zu tödlicher Gewalt, weil sie Zurückweisungen, Enttäuschungen, Entbehrungen, tägliche Quälereien und Misshandlungen mit größerem Gleichmut ertragen als Männer? Sind Frauen einfach nur leidensfähiger und deshalb weniger delinquent? Das sind die gängigen Erklärungsmuster. Überlegen und entscheiden Sie selbst …

Vielen Dank, Stephan Harbort, für die Beantwortung der Fragen.

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