Sieben Fragen an Thomas Erle

Das Foto zeigt Thomas Erle.

Thomas Erle, geboren 1952 in Schwetzingen, lebt seit 20 Jahren in Emmendingen bei Freiburg. Nach dem Abitur studierte er Mathematik und Sport in Heidelberg. Es folgten ausgedehnte Studienreisen durch Europa, Asien, Lateinamerika und die USA. 30 Jahre lang war er pädagogisch tätig, zuletzt an einer integrativen Schule. Heute widmet er der Erkundung des Schwarzwaldes und der angrenzenden Gebiete viel Zeit – neben seiner Vorliebe für Musik, Literatur und guten Wein. Im Gmeiner-Verlag erschienen seine Kriminalromane Teufelskanzel und Blutkapelle. Mit Freiburg und die Regio für Kenner hat er ganz aktuell einen Reiseführer für die Gegend veröffentlicht, in der Kaltenbach ermittelt.

Für Kriminetz beantwortete Thomas Erle sieben Fragen.

Kriminetz: Du hast soeben einen Reiseführer für Freiburg und Umgebung veröffentlicht. Bist du selbst schon Mal ins Freiburger Bächle gefallen?

Thomas Erle: Nein, und ich werde mich hüten. Gilt es doch in Freiburg als ungeschriebenes Gesetz, dass jeder, der unabsichtlich in ein Bächle tritt, später einmal ein gebürtiges Bobbele (= Freiburger/in) heiraten muss. Schließlich bin ich seit Jahren bereits glücklich verheiratet, und will das nicht aufs Spiel setzen!

Kriminetz: Dein Ermittler Lothar Kaltenbach ist Wein- und Musikliebhaber. Schwingt da ein wenig Biografisches mit?

Thomas Erle: Zuvor ein kleiner aber wichtiger Hinweis: Lothar Kaltenbach ist kein Kommissar. Die Polizei taucht in meinen Büchern sogar äußerst selten auf. Ich wollte von Anfang an eine Figur schaffen, die beruflich nichts mit Verbrechen zu tun hat, also auch kein Privatdetektiv, Anwalt, Reporter etc. Stattdessen sollte Kaltenbach ein Mensch wie wir alle sein.
Wie sehr berührt ihn ein Verbrechen? Wie verhält er sich? Was bringt ihn dazu, tätig zu werden? Das sind die Fragen, die mich bewegen. Spannend ist der Punkt, an dem er in die Ermittlungen hineingezogen wird. Ob ich persönlich so weit gehen würde – wahrscheinlich eher nicht. Ich gehöre zu den 99 % derer, die das lieber den Spezialisten überlassen.
Hingegen sind in die Figur des Lothar Kaltenbach zugegeben einige Charakterzüge und Vorlieben eingeflossen. Dazu gehört in erster Linie meine Liebe zur Musik. Bei einem Landschulheimaufenthalt hatte ein Mitschüler eine Gitarre dabei und zeigte mir die ersten Griffe. Da war ich 15, und es war die Zeit der größten musikalischen Vielfalt des letzten Jahrhunderts. Im Radio liefen täglich die neuesten Platten der Beatles, Zeppelin, Stones, Who, Hendrix und Dylan. Das hat in mir starke Wurzeln geschlagen, die bis heute lebendig sind. So geht es auch Kaltenbach. Seine Interessen sind vielfältig, hauptsächlich jedoch die Musik der 60er und 70er. Und der Blues. Wenn er seine Gefühle ausdrücken möchte, setzt er sich hin und spielt Gitarre.
Ein weiteres Merkmal, das ich mit Kaltenbach teile, ist das Interesse an Geographie, Geschichte und Natur. Bei schönem Wetter sieht man mich gerne irgendwo im Breisgau, im Markgräflerland oder im Schwarzwald auf der Vespa.
Zu guter Letzt haben wir beide etwas von einem Genussmenschen. Gut essen und trinken gehört hier in der Gegend einfach dazu.
Es gibt aber auch Gegensätze. Mein Protagonist ist Weinhändler und betreibt eine gut gehende Weinhandlung (Kaltenbachs Weinkeller). Dort würde man mich nur als Kunde antreffen. Geschäftsmann bin ich nicht.

Kriminetz: Der SWR hat angekündigt, den „Bodensee-TATORT“ 2016 auslaufen zu lassen. Was hältst du davon, Freiburg als neue Stadt auf der TATORT-Landkarte zu verorten?

Thomas Erle: Derzeit schreibe ich an einer Sammlung von Kurzkrimis, die sämtlich in Freiburg spielen. Inspirierende Schauplätze und Gelegenheiten gibt es in der Stadt zuhauf. Es ist nicht nur Lokalpatriotismus, wenn ich behaupte, dass Freiburg für einen Tatort ideal ist. Grünenhochburg, Savoir-vivre, südländische Lebensfreude. Dazu die geografische Lage am Rande des Schwarzwaldes, die Grenznähe zur Schweiz und zum Elsass – all dies deckt ein vielfältiges Spektrum an Möglichkeiten ab. Die Stadt selbst bietet eine Fülle von Motiven. Keineswegs nur Münster und Martinstor. Zum Beispiel die alten Bergwerksstollen. In einem von ihnen werden heute Pilze gezüchtet, in einem anderen lagert das gesamte deutsche Kulturerbe auf Mikrofilm. Oder der alte Friedhof in Herdern, wo früher das Grab des Kaspar-Hauser-Mörders war, und wo jeden Tag seit Generationen das Grab einer unbekannten Schönen mit Blumen geschmückt wird – niemand weiß, von wem.
Nicht zuletzt wegen der Freiburger, die sich selbst ‚Bobbele‘ nennen. Gemütlich und lebensfroh, clever und schlitzohrig gleichzeitig. Auf jeden Fall hätte der neue Tatort einen kräftigen Schuss Lokalkolorit verdient, auf jeden Fall mehr als in den zuletzt doch oft austauschbaren Orten und Teams.

Kriminetz: Wie sieht einer deiner typischen Arbeitstage aus?

Thomas Erle: In früheren Jahren habe ich geschrieben, wann und wo es sich ergab, manchmal sogar nachts zur Entspannung, wenn ich von einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause gekommen bin. Das geht heute nicht mehr. Bedingt durch meine schwere Tumorerkrankung vor fünf Jahren muss ich mit meinen Kräften sehr ökonomisch umgehen. Seit ich in Altersteilzeit bin, habe ich den unschätzbaren Vorteil, meinen Tagesablauf selbst gestalten zu können. Kreative Schreibzeit ist morgens von 9 bis 12 Uhr, da will ich auch nicht gestört sein. Da ich meine Entwürfe richtig altmodisch mit Kuli und Schreibblock zu Papier bringe, muss das Ganze auch auf den PC übertragen werden. Das mache ich dann am späten Nachmittag. In der warmen Jahreszeit, die zum Glück bei uns ziemlich lange dauert, bin ich viel mit der Vespa unterwegs und lasse mich an Ort und Stelle inspirieren. Notizblock und Kamera sind immer dabei.

Kriminetz: Du schreibst neben Kriminalromanen auch Kurzgeschichten. Was macht für dich den Reiz dieses Genres aus?

Thomas Erle: Kurze Geschichten sind auf zweierlei Weise sehr reizvoll. Im Gegensatz zu einem episch angelegten Roman über hunderte von Seiten ist eine Kurzgeschichte wie ein unverhofftes, plötzliches Schauen in ein fremdes Fenster. Ich bin neugierig, ein Voyeur fast. Es gibt keine Vorwarnung, keine Anlaufphase. Es kann dann sehr überraschend sein, was mich erwartet und wie die Geschichte endet. Wenn überhaupt.
Als Schriftsteller liegt die Herausforderung darin, genau dies zu schaffen. Die Kurzgeschichte als Konzentrat mit allen Ingredenzien, die eine gute Geschichte braucht: interessante Typen, spannende Handlung, unverhoffte Wendungen. Dazu muss ich es schaffen, Text und Inhalt zu konzentrieren, zu verdichten, alles Überflüssige zu streichen. Ich spreche dabei von Geschichten mit maximal 20 Seiten, am liebsten noch weniger. Kurzgeschichten zu schreiben ist eine Kernübung. Äußerst empfehlenswert für jeden, der schreibt.

Kriminetz: Welche Bücher liest du selbst am liebsten?

Thomas Erle: Gut erzählte unterhaltsame Geschichten sollen es sein, Autoren, die in mir innere Bilder erzeugen. Auf ein bestimmtes Genre bin ich nicht festgelegt. Beispielsweise ‚Die Moselreise‘ von Hanns-Josef Ortheil, ein wunderbares Buch, in dem sich der Autor an einen Sommerurlaub mit seinem Vater erinnert. Oder ‚Die Landkarte der Zeit‘ von Felix Palma, eine atemberaubende Mischung aus Fantasy, SF und Krimi im London des 19. Jahrhunderts. ‚Der Hundertjährige ...‘ habe ich gerne gelesen. Rilke-Gedichte. Gut geschriebene Kurzgeschichten. Südamerikanische Autoren wie Garcia-Marquez, für mich einer der besten. Oder Klassiker wie Hesse oder die alten Götter- und Heldensagen. Auch Bücher von Kollegen, die ich kenne und schätze, zB die Krimis von Josef Preyer aus Steyr/A oder die berührenden Geschichten von Thommie Bayer, der hier in der Gegend wohnt.
Dazu immer wieder ein Sachbuch, z.B. derzeit eine Sammlung von Augenzeugenberichten über Wyhl und den Widerstand gegen das geplante AKW vor 40 Jahren. Vor einiger Zeit habe ich Safranski als Autor von Biographien entdeckt, wie z.B. über Nietzsche, Heidegger oder die Schriftsteller der Romantik.
Die Fülle der Neuerscheinungen ist unüberschaubar. Es ist schwer, etwas Entsprechendes zu finden. Manchmal gehe ich nach Gefühl, am liebsten auf Empfehlung von Menschen, die ich kenne. Gerne lese ich auch ein Buch Jahre später ein zweites Mal.
Natürlich lese ich auch ab und an Krimis. Hansjörg Schneiders Reihe um ‚Hunkeler‘ aus Basel gefällt mir sehr. Auch ‚Allmen‘ von Martin Suter. P.D. James, die jüngst verstorbene Queen of Crime, schreibt in bester englischer Krimitradition. Wobei ich dann eher neugierig bin: wie machen es die Kollegen, eine unterhaltsame und spannende Geschichte zu erzählen. Über das Lesen lerne ich für das Schreiben am meisten.

Kriminetz: Woran arbeitest du momentan?

Thomas Erle: Derzeit steht ein weiteres Lieblingsprojekt an. „Wer mordet schon in Freiburg?“ Das ist die Frage, und so wird das Buch heißen. 11 Kurzkrimis, die alle in Freiburg spielen. Für mich eine hervorragende Gelegenheit, in die Abgründe der beschaulichen, gemütlichen, liebevollen Stadt im Südwesten der Republik zu blicken. Das Ganze soll verknüpft werden mit touristischen Hinweisen im Anhang.
Dieses Buch habe ich bereits begonnen und wird mich die nächsten Monate beschäftigen. Parallel dazu entstehen Ideen und erste Skizzen zu meinem vierten Kaltenbach-Krimi.
Zur Arbeit gehört auch das Promoten meines aktuellen Buches „Freiburg und die Regio für Kenner“, eine Mischung aus Reiseführer und Lesebuch. Ein Navi für Genießer. Außerdem will das Erscheinen des dritten Kaltenbach-Krimis im Juli vorbereitet sein.
Als Schriftsteller fühle ich mich ständig am Arbeiten. Die unzähligen Alltagssituationen, Begegnungen mit Menschen und Charakteren, die Besonderheit von Orten – all das nehme ich dauernd auf, auch in Phasen, in denen ich nicht schreibe. Es ist wie eine Kiste, in der ein riesiger Schatz angehäuft wird. Und irgendwann tauchen diese Impulse dann wieder auf. Das ist die Antwort auf die immer wieder gern gestellte Frage, woher ich meine Ideen nehme. Ich greife auf das zurück, was ich in mir trage. Voraussetzung ist, mit großer Offenheit und wachen Sinnen durch den Tag zu gehen.

Vielen Dank, Thomas Erle, für die Beantwortung der sieben Fragen!

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