Sieben Fragen an Wolfram Fleischhauer

Das Foto zeigt Wolfram Fleischhauer. Foto: © by Jana Kay

Der Schriftsteller Wolfram Fleischhauer hat in Deutschland, Spanien, Frankreich und in den USA Literaturwissenschaft studiert. Der gebürtige Karlsruher pendelt heute zwischen den beiden Städten Berlin und Brüssel, wo er als Konferenzdolmetscher arbeitet. Nach seinen erfolgreichen Romanen Torso, Der gestohlene Abend, Die Inderin, Das Buch in dem die Welt verschwand, Drei Minuten mit der Wirklichkeit, Die Frau mit den Regenhänden, Die Purpurlinie und dem Jugendroman Die Verschwörung der Engel, in denen er jeweils verschiedene Thematiken aufgriff, beschäftigt er sich in Schweigend steht der Wald mit der Hinterlassenschaft der Nazi-Zeit in einem Ort im Bayerischen Wald. Wer einen Regionalkrimi mit skurillen Charakteren und schrägen Dialogen erwartet, merkt rasch, dass in diesem Roman zwar die Besonderheiten der Landschaft und der Menschen, die dort leben, sehr gut eingefangen und wiedergegeben werden, dass aber der Inhalt hält, was der Klappentext verspricht: Wolfram Fleischhauer verbindet Anspruch und Spannung zu einer überaus gelungenen Mischung.

Anja Grimm, eine Studentin der Forstwissenschaften, verbringt ihre Praktikumszeit ausgerechnet an jenem Ort im Bayerischen Wald, wo ihr Vater vor zwanzig Jahren spurlos verschwand. Während ihrer Arbeit im Freien hat sie schreckliche Begegnungen. Als der geistig zurück gebliebene Xaver Leybach Selbstmord begeht, stößt Anja mit ihrem Verdacht, er könne etwas über den Verbleib ihres Vaters gewusst haben, bei den Dorfbewohnern auf Misstrauen und Feindseligkeit. Als die gewahr werden, dass Anja über die Fähigkeit verfügt, die Zeichen des Waldes lesen zu können, werden sie aktiv.

Für Kriminetz beantwortete Wolfram Fleischhauer sieben Fragen.

Kriminetz: Sie haben in Ihrem aktuellen Buch die Atmosphäre und die Gegebenheiten im Bayerischen Wald sehr authentisch eingefangen. Auch den Dialekt, der sich unter anderem in einer etwas abgewandelten Syntax äußert. Haben Sie eine umfangreiche Recherche-Reise in den „Woid“ unternommen? Und weshalb wählten sie diesen Ort für die Handlung Ihres Romanes?

Wolfram Fleischhauer: Dialekt habe ich nur sehr behutsam in manchen Wendungen angedeutet. Ich kann kein Bayerisch und außerdem lese ich ungern Dialoge, die im Dialekt geschrieben sind. In der Gegend, wo der Roman spielt, habe ich mich mehrmals länger aufgehalten, sowohl um die reale Geschichte zu recherchieren, als auch um die Schauplätze und die Lebenswelt der Figuren zu studieren. Die Geschichte spielt in dieser Gegend, weil ich dort während einer Lesereise die dramatische Grundidee dazu hatte. Als ich darüber hinaus erfuhr, was sich vor vielen Jahren in der Region ereignet hat, war klar, dass der Roman dort spielen würde. Ausgewählt hätte ich mir den Schauplatz wohl eher nicht, denn es ist doch eine sehr kleine Bühne. Aber wie gesagt: das Drama, das den Hintergrund der Geschichte bildet, hat nun mal dort stattgefunden.

Kriminetz: Ihr Krimi ist auch ein Familienroman. Das ungleiche Brüderpaar Lukas und Rupert hat mich an das erste Brüderpaar des Alten Testamentes erinnert. Die geschichtlichen Ereignisse, die über ein halbes Jahrhundert zurückliegen, haben im Buch Auswirkungen auf die einzelnen Mitglieder dieser Familie bis in die übernächste Generation. Bei all den Grausamkeiten, die passieren, hatte ich bei der Lektüre doch den Eindruck, es wird die Möglichkeit auf Versöhnung offen gehalten? Kein „Auge um Auge“ und „Zahn um Zahn“ bis in ewige Zeiten?

Wolfram Fleischhauer: Das Ende ist nicht eindeutig, weil ich das schwierige Abwägen von Strafe und Gnade dem Leser nicht abnehmen sondern an ihn weiterreichen möchte. Genau dieser Konflikt ist die Seele der Geschichte. Anja kann nicht aufhören, weiter zu bohren, nicht nur im Waldboden, sondern auch in den Biographien der Dorfbewohner. Sie möchte unbedingt die Wahrheit herausfinden. Gleichzeitig beschwört sie dadurch eine neue Katastrophe herauf. Natürlich soll die Wahrheit ans Licht, aber wie geht man dann damit um? Und was ist am Ende gewonnen? Das ist die dramatische Frage, die mich bei dieser Geschichte gereizt hat und natürlich werde ich einen Teufel tun, sie für die Leserin zu beantworten. Ich sehe meine Aufgabe als Erzähler darin, eine universelle Frage auf eine hoffentlich spannende, ergreifende, sowohl Kopf als auch Herz bewegende Art neu zu stellen. Das ist für mich unter anderem der Sinn von Kunst – eine alte Frage neu zu erleben.

Kriminetz: Eine alte Frau vegetiert auf einem angeranzten Hof vor sich hin. Es kommt kein Pflegedienst ins Haus. Der Hofhund, zur Bestie abgerichtet und pervertiert, bewacht die traurige Szenerie. Aus so einem Umfeld entspringt „der Dorfdepp“, der Mensch, der sehr eigen ist, dem man hinter vorgehaltener Hand alles Mögliche unterstellt, der aber letztlich doch von der Dorfgemeinschaft „getragen“ wird. Milieu und Erziehung haben ihn zu dieser erbarmenswerten Figur gemacht. Aber er scheint auch im sozialen Gefüge des Dorfes eine wichtige Funktion zu haben?

Wolfram Fleischhauer: In einem gelungenen Roman sollte es gar nichts geben, das keine Funktion hat. Ein Roman ist ein Kunstwerk, etwas Gemachtes, Komponiertes, dramaturgisch Optimiertes. Kunst heißt ja auch: alles Überflüssige weglassen. Über die abstrakte Funktion einzelner Figuren zu sinnieren ist eher ein Job für Germanisten oder Literaturwissenschaftler. Meine Figuren erfüllen zwar gewisse Funktionen in der Handlung, aber natürlich erschöpfen sie sich nicht darin. Sie müssen immer mehr sein als ihre Funktion, sonst überleben sie den Schreibprozess nicht. Um wenigstens ansatzweise zu antworten vielleicht so viel: auf der sinnbildlichen Ebene ist Xaver ist der „Unerlöste“, der im Wald herumstreicht, fast eine Märchenfigur, in der sich etwas Verdrängtes manifestiert. Auf der realen Ebene ist er einfach nur ein armes Schwein, der die Schuld des ganzen Dorfes mit sich herumtragen muss.

Kriminetz: Beim Lesen der Jagdszene habe ich mir die Frage gestellt, ob der Autor schießen kann?

Wolfram Fleischhauer: Ich bin ein ziemlich guter Schütze oder war es jedenfalls mal. Als Jugendlicher war ich als Austauschschüler in den USA und dort Mitglied im Rifle-Team. Das war Zufall, denn ich habe damals in der High-School nur aus Jux und Neugier beim Probeschießen mitgemacht. Meine Trefferquote war so hoch, dass die mich dann unbedingt haben wollten. Für Football und Basketball war ich zu schmächtig, also habe ich halt da mitgemacht und fand es auch eine Weile lang ganz nett, denn ich hatte Erfolg. Ein paar Mal war ich sogar in den Wäldern von Ohio jagen und habe auch etwas geschossen. Aber das Töten von Tieren war mir ziemlich schnell zuwider und ich habe dann auch bald mit dem Sportschießen wieder aufgehört. Sogar Angeln fand ich irgendwann entsetzlich. Aber ich weiß noch sehr gut, wie das ist, im Wald zu sitzen und zu warten, dann irgendwann durch das Fernrohr zu schauen und Macht über Leben und Tod zu haben. Eine sehr ambivalente Erfahrung, die mir beim Schreiben der Jagdszenen durchaus wieder in den Sinn kam.

Kriminetz: Sie interpretieren in „Schweigend steht der Wald“ das Märchen von Hänsel und Gretel auf eine sehr interessante Art. Die Hexe ist nicht ursprünglich die Böse, sondern wird erst in der Erzählung der Kinder dazu gemacht. Nach der Überwindung und Ausmerzung der Außenseiterin, die sie eigentlich verkörpert, verträgt sich die Familie, in der es ja immerhin zur Aussetzung der eigenen Kinder kam, wieder. Das klingt nach dem politischen Instrument, bei dem man in der Außenpolitik klappert, um von den Problemen im eigenen Land abzulenken?

Wolfram Fleischhauer: Es ist eher der Opfermechanismus, mit denen sich primitive Gesellschaften ihrer Identität versichern, in Form der Vernichtung des „Anderen“ zum Zweck der Bestätigung des „Selbst“. Diese Hänsel-und-Gretel-Lesart stammt von Iring Fetscher. In seinem Buch „Wer hat Dornröschen wach geküsst“ liest er die Märchen der Gebrüder Grimm mit den Werkzeugen der Psychoanalyse. Er bürstet sie gegen den Strich, befreit sie von ihrer romantischen Patina und schaut, was da zwischen den Zeilen so alles durchschimmert. Und da fördert er zum Teil Erstaunliches zu Tage. Ich finde diese Lesart sehr interessant. Vielleicht funktionieren manche Märchen auf gesellschaftlicher Ebene ähnlich wie Träume im Individuum? Verdrängte Wahrheiten oder Wünsche werden „erzählt“, aber eben so, dass wir nicht „erwachen“, weil wir ihren tieferen Sinn nicht erkennen und auch nicht erkennen sollen. Wie Träume, so wirken auch Märchen oft absurd, unlogisch und rätselhaft. Dennoch spüren wir instinktiv, dass sie uns etwas Wichtiges mitteilen wollen, kryptische Signale aus unserem Unbewussten bzw. unserer kollektiven Geschichte aussenden, die nach Interpretation verlangen. So wie Freud den Traum als eine entstellte Wunscherfüllung gelesen hat, so überliefern manche Märchen vielleicht in verdichteter und verschobener Form unangenehme historische Wahrheiten, die nicht erinnert werden sollen, gleichzeitig jedoch so furchtbar und erschütternd sind, dass sie immer wieder an die Oberfläche, zur Sprache drängen, und sei es eben in entstellter, nur schwer lesbarer Form.

Kriminetz: Sie arbeiten in Brüssel als Konferenzdolmetscher. Ergeben sich da auch Themen für Krimis?

Wolfram Fleischhauer: Für mich ist Brüssel nicht romanfähig. Jeder hat bereits eine (meistens schlechte) Meinung davon. Kaum jemand mag das EU-Brüssel oder findet es geheimnisvoll. Da ich für die Europäischen Institutionen arbeite und die Vorgänge dort seit zwanzig Jahren aus der Dolmetschkabine heraus verfolge, würde es mir schwer fallen, die Polemik, Plattitüden und Halbwahrheiten zu wiederholen, die nun sogar schon Leute wie Herr Enzensberger oder jüngst auch noch Herr Broder mit großer Resonanz verbreiten. Ich könnte natürlich versuchen, gegen derartige wie ich finde Vor- und Fehlurteile anzuschreiben und das, was ich an der Europäischen Union gut oder schlecht finde, in einen Brüssel-Roman verpacken. Aber das wäre Tendenzliteratur und somit kein Stoff, der mich wirklich reizt, denn ich kenne ja die Antwort schon. Ich schreibe meine Romane ja gerade nicht, weil ich irgendetwas zu wissen glaube oder um irgendwelche politischen oder historischen Überzeugungen zu verkünden. Im Gegenteil. Eine Geschichte reizt mich erst dann, wenn ich eine drängende, existentielle Frage habe aber keine Ahnung, was ich wirklich darüber denke. Wie zum Beispiel bei „Schweigend steht der Wald“. Hier geht es um die Frage: Strafe oder Gnade, Rache oder Vergebung. Ich nehme durch die Figuren unterschiedliche Positionen dazu ein und spiele das dann durch, indem ich die Figuren auf einander loslasse. Ich treibe, ja zwinge sie in existentielle Interessenszusammenhänge, fessle sie sozusagen aneinander in Liebe oder Hass, und dann schaue ich, was passiert. Dabei muss das Ergebnis immer aus den Figuren kommen, nicht von mir. Das wäre ja langweilig. Ich versuche in jeder Figur aufs Ganze zu gehen, mir seine oder ihre Wahrheit komplett zu eigen zu machen, fast so, wie wenn man gegen sich selbst Schach spielt. Und um noch mal auf Brüssel zurückzukommen: Das ist doch bereits ein Krimi! Für mich ist dieser ganze Prozess, für den Brüssel steht, die großartigste und spannendste Erzählung der Nachkriegszeit, der Bildungsroman eines ganzen Kontinents mit hoffentlich gutem Ausgang. Leider ist diese irre Story in einer kaum verständlichen Sprache aus Richtlinien, Verordnungen, Ratsentschließungen und EUGH Urteilen geschrieben, die kaum einer versteht geschweige denn liest. Schade.

Kriminetz: Ich werde nach der Lektüre Ihres Romanes die Vegetation im Wald nun ganz anders wahrnehmen. In Ihrem Roman erzählt eine satte Brennesselansammlung von einer verborgenen Geschichte. Wie haben Sie gelernt, das, was der Wald erzählt, wenn man ganz genau hin schaut, zu lesen?

Wolfram Fleischhauer: Ich bin bei denen in die Schule gegangen, die das können: bei Kartiererinnen, Förstern und Waldarchäologen. Das ist das Schöne am Schreiben: man kann sich in völlig fremde Welten begeben. Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie man sonst eine Romanfigur entwerfen soll. Sobald die Grundidee da ist, brauche ich mindestens ein bis zwei Jahre Vorbereitung, bevor ich die erste Zeile des Romans schreiben kann. Ich muss wissen, wie meine Hauptfiguren ticken, wo sie leben, wie sie denken, fühlen, handeln. In diesem besonderen Fall muss natürlich auch der wissenschaftliche Hintergrund stimmen, also brauche ich Fachleute, die mich bei der Konzeption beraten und am Ende das Manuskript auf Plausibilität hin prüfen.

Vielen Dank, Wolfram Fleischhauer, für die Beantwortung der Fragen.

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