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Die Geschichte der Baltimores
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Bis zum Tag der Katastrophe gab es zwei Goldman-Familien. Die Baltimore-Goldmans und die Montclair-Goldmans. Die »Montclairs« sind eine typische Mittelstandsfamilie, kleines Haus im unschicken New Jersey, staatliche Schule für Marcus, den einzigen Sohn. Ganz anders die Goldmans aus Baltimore: Man ist wohlhabend und erfolgreich, der Sohn Hillel hochbegabt, der Adoptivsohn Woody ein Sportass erster Güte. Als Kind ist Marcus hin- und hergerissen zwischen Bewunderung für diese »besseren« Verwandten und Eifersucht auf ihr perfektes Leben. Doch Hillel und Woody sind seine besten Freunde, zu dritt sind sie unschlagbar, zu dritt schwärmen sie für das Nachbarsmädchen Alexandra - bis ihre heile Welt eines Tages für immer zerbricht. Acht Jahre danach beschließt Marcus, inzwischen längst berühmter Schriftsteller, dass es Zeit ist, die Geschichte der Baltimores aufzuschreiben. Aber das Leben ist komplizierter als geahnt, und die »Wahrheit« über ihre Familie scheint viele Gesichter zu haben.
Gefesselt von der Geschichte der Baltimores
Die Goldmans aus Batimore und die Goldmans aus Montclair – verschieden wie sonst noch was aber trotzdem Teil derselben Familie. Der eine Zweig hat alles, was die Erfüllung des amerikanischen Traums auszeichnet, die anderen müssen mit weitaus weniger Glanz auskommen. Und genau der glanzfreien Familie entstammt der Erzähler Marcus Goldman, der alljährlich seine Sommerferien bei den „Baltimores“, wie sie zur Unterscheidung im Familienjargon genannt werden, verbringen darf.
Die glanzvolle Zeit endet mit einer Katastrophe, das erfahren die Leser gleich zu Beginn, denn Marcus, inzwischen ein erfolgreicher Schriftsteller, erzählt die Geschichte mit eingeschobenen Rückblenden.
Zu Anfang wird der große Traum von Sonne, Reichtum und genießerischer Muße entfaltet. Doch das vorgebliche Idyll hat durchaus seine Schattenseiten, die es jedoch geschickt zu verbergen vermag. Der Roman erzählt in großartigem Schreibstil die Geschichte dreier Jungs während ihrer Pubertät, die mit einem Knall, wie er größer nicht sein könnte, endet, als sie alle drei junge Männer sind.
Für Hillel, den in der Schule von den intellektuell unterlegenen Schülern gnadenlos gemobbten Jungen reicher Eltern, erfüllt sich wie durch ein Wunder der Traum vom muskelbepackten starken Bruder, der die anderen in die Flucht prügelt. Der vom Leben in eine dysfunktionale Familie hinein katapultierte Woody wird von den Goldmans in Baltimore aufgenommen und besucht dieselbe Schule wie Hillel. Gemeinsam mit Marcus bilden die drei während der Sommermonate ein unschlagbares Trio.
Der Autor beschreibt mitreißend das Klischee vom immerwährenden Sommertraum, um es anschließend gnadenlos zu sezieren. Alle sind menschlich, alle sind sterblich. Aber bis es so weit ist, steht es jedem frei, seinen Traum zu leben. Auch den ganz großen.
Da ist Onkel Saul, der Patriarch der Baltimores. Saul Goldman bekommt nicht genug davon, der größere Goldman, eben ein Baltimore, zu sein und lässt sich hinreißen. Seine Frau Anita, eine Frau wie aus einem gut geschnittenen Werbespot, stets perfekt, für alle jederzeit ein mildes Lächeln übrig, unbelastet von der doppelten Last der Vollzeit-Berufstätigkeit als Ärztin und der als Mutter. Freilich stehen der Professorentochter im Upperclass-Haushalt genügend helfende Hände zur Seite. Der gelebte Traum wird vor dem Leser üppig ausgebreitet, mitreißend erzählt von Marcus, dem Schriftsteller-Protagonisten. Marcus ist so beeindruckt von den reichen Verwandten, dass er nur ihre Sonnenseiten wahrnimmt. Und die strahlen ja auch kräftig. Beinahe wähnt man sich beim Lesen mit den Baltimores bei einem Glas Wein auf ihrer Terrasse in den Hamptons sitzend, wobei aus den geöffneten Fenstern ihres prächtigen Hauses ein Hauch von klassischer Musik tönt.
Es ist dieses Geblendetsein von dem, was der andere zu sein scheint, das sich wie ein roter Faden durch den Roman zieht. Marcus will die anderen in diesem überhöhten Glanz sehen und zieht gar nicht erst in Erwägung, dass das „Sein“ vom „Schein“ abweichen könnte. Dabei wären die anderen Facetten auch nur schwer zu erkennen, da sie nachvollziehbarer Weise nicht ebenso gerne zur Schau gestellt werden. Stoff für einen Roman, und genau das ist es, was Marcus daraus macht. Er schreibt, nachdem er auch noch seiner großen Liebe erneut begegnet, einen Familienroman. Er erzählt die Geschichte der Baltimores.
Joël Dicker erzählt in seinem Roman auch von zwei Konflikten, die so alt sind wie die Menschheit und ewig wiederkehren: Den zwischen Vater und Sohn und von dem zwischen Brüdern, der bei Kain und Abel mit einem Mord endete. Und er erzählt von der Liebe. Dabei auch von einer großartigen, unendlichen, tief verbindenden Liebe. Schon wieder ein Traum? Oder wahr? Man muss es nur genügend wollen. Und miteinander reden, nicht vermuten, meinen und unterstellen.
Ein großartiger Roman, spannend und mitreißend erzählt. In der deutschen Übersetzung aus dem Französischen von Brigitte Große und Andreas Alvermann im Piper Verlag erschienen.
Lesehighlight
Marcus Goldman ist Schriftsteller. Gerade plant er einen neuen Roman und hat sich nach Florida zurückgezogen. Doch ständig kommen Erinnerungen in ihm hoch, an seine Familie, an eine Katastrophe, die die Familie seines Onkels Saul heimsuchte, an eine vergangene Beziehung, an sein eigenes Leben – am Ende wird der Roman, an dem er schreibt, von all dem handeln.
Bereits mit „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ konnte der Autor mich überzeugen. Marcus Goldman spielt übrigens auch dort eine wesentliche Rolle. Die Erzählweise ist gleich geblieben, mit vielen Zeit- und Perspektivwechseln erzählt der Autor eine Geschichte, die sich dem Leser erst nach und nach gänzlich erschließt. Ich finde das sehr spannend, es bedarf aber einiger Aufmerksamkeit beim Lesen, die verschiedenen Stränge nicht außer Acht zu lassen, die erst am Ende alle verknüpft sind und dann erst das Gesamtbild ergeben. Dabei geht es dem Leser wie dem Protagonisten, der auch erst nach und nach die Wahrheit erfährt, vieles stellt sich für ihn – und den Leser – am Ende anders dar, als zunächst gedacht.
Die titelgebenden Baltimores sind Verwandte Goldmans, die in Baltimore leben. Er selbst und seine Eltern leben in Montclair und sind daher die Montclairs. Dieser Unterschied ist wesentlich. Die Balitmores sind Onkel Saul, Tante Anita, deren Sohn Hillel und Woody, ein Junge, den Saul und Anita aufgenommen haben, und der bald zur Familie gehört. Ihre Geschichte ist es, die hier erzählt wird, der Autor als Verwandter ist ihnen sehr verbunden, und hat viel Zeit mit den Baltimores verbracht.
Man lernt die Charaktere gut kennen, aber auch sie erschließen sich erst nach und nach, Marcus und mit ihm der Leser wird viele Überraschungen erleben, und manch einen Charakter am Ende mit anderen Augen sehen. Manches kommt einem vielleicht etwas überspitzt vor, aber nichts unwahrscheinlich.
Es ist hohe Erzählkunst, die der Autor hier abliefert, immer das Gesamtwerk im Auge zu behalten, sich nicht zu verzetteln, alles logisch herzuleiten und dem Leser einen spannenden Roman zur Verfügung zu stellen, diesen dabei nicht zu überfordern, aber auch nicht zu langweilen – das kann der Autor in der Tat perfekt. Nebenbei bringt er den Leser noch dazu, sich den Kopf zu zerbrechen, was gewesen sein könnte, und manches vielleicht sogar zu erraten. Ich bin sehr gespannt auf sein nächstes Werk, mit dem er sich vielleicht endgültig in die Riege meiner Lieblingsautoren schreiben wird.
Mich hat der Roman begeistert, ich konnte ihn kaum aus der Hand zu legen. Wer bereit ist, aufmerksam zu lesen, sich nicht nur auf mehrere Perspektiven, sondern auch mehrere Zeitebenen einzulassen, auf einen Roman, der nicht chronologisch erzählt wird, und der im Laufe der Erzählung manches auf den Kopf stellt, der erhält hier ein sehr lohnenswertes Werk, das ich absolut empfehlen kann, und dem ich gerne volle Punktzahl gebe.