Einsteins Gehirn

Peter Schmidt, Autor von Einsteins Gehirn

LESEPROBE

Peter Schmidt
EINSTEINS GEHIRN
(Neu im Juli 2012)

Prolog

Als der Pathologe Dr. Thomas Harvey nach Albert Einsteins Tod am 18. April 1955 im Princeton Krankenhaus, New Jersey, das Gehirn des Schöpfers der Relativitätstheorie stahl, um es – wie er behauptete – wegen seiner schier übermenschlichen Intelligenz für weitere Untersuchungen der Nachwelt zu erhalten, konnte er nicht ahnen, welche unglaublich komische Odyssee das seltsame Organ dereinst antreten würde …
Harvey vermaß und fotografierte Einsteins Gehirn, zerschnitt es in 240 Blöcke, fertigte zahlreiche Dünnschnitte für Mikroskopieuntersuchungen und konservierte alles nach dem derzeitigen Stand der Technik in zwei mit Formalin gefüllten Einmachgläsern.
Jahrelang überließ er interessierten Wissenschaftlern Proben des Gehirns, wenn auch mit wenig aufschlussreichen Ergebnissen, was nun eigentlich genau das Genie des Physikers ausmachte. Die Öffentlichkeit reagierte empört auf Harveys Eigenmächtigkeit. Einstein selbst hatte um Einäscherung gebeten. Harvey verlor seine Approbation, schlug sich als einfacher Arbeiter und Tagelöhner durch, wurde Verkäufer in einem Heimwerkermarkt und zog von Ort zu Ort, immer das Gehirn Albert Einsteins im Gepäck.
Mit all seinen Hirnproben konnte er wissenschaftlich nie etwas Rechtes anfangen. Einmal vergaß er Einsteins Gehirn sogar im Keller, als er bei seiner Frau auszog, verlor aber nie sein Ziel aus den Augen, der Genialität des Physikers auf die Spur zu kommen.
Im Herbst 1997 konnte ein Journalist Harvey noch einmal zu einer Reise überreden. Von New England fuhren die beiden per Auto nach Kalifornien, um Proben des Gehirns der erstaunten Urenkelin Albert Einsteins zu übergeben.
Erst im Jahre 1998, mehr als vierzig Jahre nach Einsteins Tod, brachte Harvey das Gehirn an den Ort zurück, an dem dessen Odyssee begonnen hatte: an das Princeton Medical Center, New Jersey.
Hier wurde sein Behältnis posthum Opfer einer kuriosen Verwechslung mit einer Metallkanne, in der sich auf minus 196 Grad heruntergekühlter flüssiger Stickstoff befand; posthum, weil dieser Behälter bereits 1993 aus der Klinik entwendet worden war.
Auf diese Weise nahm eine nicht weniger kuriose Geschichte ihren Lauf …

1

Mein Alter machte neuerdings auf staatlicher Almosenempfänger, arm, arbeitslos, krank. Keine Ahnung, wozu dieser Trick nun wieder diente. Vielleicht hoffte er damit die Suche nach seinem nicht unbeträchtlichen Vermögen zu erschweren; oder sich aus anderen hinterfotzigen Gründen aus der Schusslinie der Behörden zu bringen.
Der Sommer war ungewöhnlich heiß, mit schwülen Nächten, in denen die Grillen sich auf unserem weitläufigen Anwesen vergnügten. Während der Mond milde lächelnd seine Sichel über die Baumwipfel schob, erklang aus jeder Grasnarbe ihr schrilles Zirpkonzert – selbst die Dachbepflanzung unseres verglasten Badehauses blieb nicht von ihnen verschont. Womöglich hatte das Liebeswerben dieser possierlichen Tierchen ja so etwas wie eine anregende Wirkung auf meinen Alten, zumindest bei der Beschaffung von illegalem Geld.
Wenn ich ihn fragte, womit er früher seine Familie durchgebracht hatte, dann behauptete er mit dem arglosem Gesichtsausdruck eines Menschen, dem jede, aber auch jede Form der Ausrede ein Gräuel ist, er sei einer von drei führenden Managern bei AÄG im Amazonasbecken gewesen – „Ä“ für „E“ war so etwas wie ein Sprachfehler bei ihm.
Ein andermal wollte er für Peabody Energy Corp., St. Louis gearbeitet haben. Das ist der größte Kohlenkonzern der USA, wobei Kohle hier ausnahmsweise im wörtlichen Sinne zu verstehen ist.
Sein richtiger Name lautete jedenfalls nicht Pottkämper, so viel war sicher. Ob er Beziehungen zu anderen Verbrechern pflegte, ließ sich schwer ermitteln, weil er Telefone mied und auch allem anderen neumodischen Kram wie E-Mail und Internet aus dem Wege ging. Er schloss seine Korrespondenz in den Safe, betrieb ein obskures Kellerlabor, dessen Schlüssel er immer bei sich trug, und auf Reisen – falls er überhaupt einmal das Haus verließ –, polierte er mit einem wollenen Lappen oder Taschentuch seine Fingerabdrücke von den Klinken der Hoteltüren.
Ich sagte meinem Alten auf den Kopf zu, dass „AÄG“ überhaupt keine Niederlassung in Brasilien besitze und auch nie besessen habe. Worauf er antwortete, es gäbe Niederlassungen, die unter der Decke operierten.
„Unter welcher Decke?“, fragte ich.
„Glaubst du, ich kann jetzt offen darüber reden, wenn man mich früher bei der geringsten Plauderei einen Kopf kürzer gemacht hätte?“
„Hab mir kürzlich das Jahreskompendium deiner angeblichen Firma von Kapitalismus global besorgt. Umsätze, Auslandsprojekte, Manager von den Anfängen bis zur Gegenwart, selbst die Schmiergelder sind akribisch aufgeführt. AEG ist definitiv nie in dieser Region tätig gewesen.“
„Klugscheißer …“
„Ich gebe nur wieder, was in unabhängigen und öffentlich zugänglichen Kompendien steht.“
Mein Alter kratzte sich misslaunig an seinem linken Kunststoffohr, einer täuschend echt aussehenden Prothese. Es war die pure Hilflosigkeit einem Vierzehnjährigen gegenüber, der einem intellektuell in jeder Hinsicht überlegen ist.
„Supergehirn überschlägt sich heute mal wieder mit scharfsinnigen Kommentaren, was?“
Oben knarrte eine Tür: in diesem Haus immer ein Zeichen dafür, dass wir Zuhörer hatten. „Legt Einstein wieder goldene Erkenntniseier?“, meldete sich Großmutter vom obersten Treppenabsatz.
Alte Leute sind bekanntlich oft schwerhörig, doch die Ohren meiner zweiundneunzigjährigen Großmutter hätten durchaus als Bauplan für einen erstklassigen Hifi-Verstärker dienen können. Dass sie mich Einstein nannte, sprach immerhin für eine gewisse Menschenkenntnis. Ihr Freund, ein etwas verschnarchter Apotheker im Ruhestand, nannte mich lieber Doktor Freud – als Hinweis, dass meine Begabung weniger auf physikalischem als auf psychologischem Gebiet zu finden sei. Mein Erzeuger dagegen zog es vor, mich einfach Klugscheißer zu nennen.
„Nein, dein Enkel Albert findet’s nur gerade mal wieder spannend, meine Lebensgeschichte zu recherchieren“, sagte mein Alter. „Leg dich wieder hin, Mama. Nachher gibt’s Kaffee und Kuchen.“
„Hatten wir nicht nachmittags schon Kaffee und Kuchen? Bin ich schon so geistesabwesend? Dann hab ich wohl wieder meine Ginkgo-Pillen vergessen …“
Großmutter liebte es, auf beginnenden Alzheimer zu machen, obwohl ihr Verstand schärfer war als manche Rasierklinge. Sie konnte vierstellige Zahlen im Kopf multiplizieren und aus dem Stegreif über das Wahrheitsproblem in fiktionaler Literatur referieren. Auf die Frage nach Wittgensteins Blauem Buch, einem Klassiker der modernen Philosophie, hätte sie wahrscheinlich geantwortet, sie halte die Behauptung, dass die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache sei, für ebenso wirren Bullshit wie den Tractatus logico-philosophicus.
„Deine Hirndurchblutung reißt ein riesiges Loch in unsere Hartz 4-Kasse“, murrte mein Alter.

Pottkämper senior wurde immer von Ängsten geplagt, er könnte in Armut sterben. Glücklicherweise war Geld nie wirklich ein Thema für uns.
Angeblich bewohnten wir nur den etwas heruntergekommenen Anbau einer Villa aus der Gründerzeit, die Wohnung des früheren Hausmeisters. Doch in der Zwischenetage gab es einen Durchgang, zu dem mein Alter den Schlüssel besaß, um nebenan gelegentlich für ein „kleines Trinkgeld“ nach dem Rechten zu sehen.
Deshalb benutzte er durchaus auch den Haupteingang – erhobenen Hauptes und als ein Mann, der schließlich im Auftrag handelte.
Aber manchmal genoss er es auch, sich zu verstellen, und klingelte demonstrativ an der Pforte, und trat drei oder vier Schritte zurück und blickte fragend an der Fassade hoch, als warte er darauf, dass der rechtmäßige Besitzer ihm öffnete. Und wenn er sich danach wieder der Haustür zuwandte und sie geschickt mit dem in seiner Hand palmierten Schlüssel aufschloss, dann mochte es für einen vorüberkommenden Passanten durchaus so scheinen, als sei er eingelassen worden …
Hatte man erst einmal unsere armselige Wohnung durch die Glastür in der Zwischenetage verlassen – Räume auf Sozialhilfeniveau, um die städtischen Kontrolleure hinters Licht zu führen –, gelangte man nach wenigen Schritten in eine beachtliche Villa aus weißem Klinkerstein und Carraera-Marmor.
Es war wie in den albernen Harry-Potter-Filmen. Plötzlich befand man sich in einer anderen Welt. Nur ein paar Meter trennten diese beiden Universen voneinander, aber sie glichen einander so wenig, dass man sich ernsthaft fragte, ob wohl zwölf mal zwölf auf der anderen Seite der Hauswand auch einhundertvierundvierzig ergeben würde.