Sieben Fragen an Christine Lehmann

Das Foto zeigt Christine Lehmann. Foto: © Argument Verlag

Christine Lehmann lebt im schwäbischen Stuttgart und in Wangen im Allgäu. Die promovierte Germanistin schreibt Krimis und andere Romane, veröffentlicht Hörspiele und arbeitet als Nachrichtenredakteurin beim SWR in Stuttgart. Zudem hat sie ein „Handbuch für Krimiautorinnen und Neugierige“ (gemeinsam mit Manfred Büttner) verfasst. In ihrer Dissertation ging sie der Frage nach, weshalb die Heldin im bürgerlichen Roman am Ende meist stirbt.

„Totensteige“ ist bereits der zehnte Krimi um die schräge Schwabenreporterin Lisa Nerz. Erschienen ist er im Argument Verlag. Für Kriminetz.de beantwortete Christine Lehmann einige Fragen zu ihrem aktuellen Buch.

Krminetz: In „Totensteige“ geraten Lisa und ihr „Lebensabschnittsirrtum“ Richard in die Welt der Parapsychologie. Wie bist du auf dieses Thema aufmerksam geworden und hast du im Rahmen deiner Recherche zu „Totensteige“ an einer „Geistersitzung“ teilgenommen?

Lehmann: Das Thema lag in der Luft. Es ist mir einfach eingefallen. Ich habe aber seit meiner Kindheit Beziehung dazu. Beispielsweise kannte ich Hans Bender, den damaligen Leiter des Freiburger Instituts für Parapsychologie. Meine Eltern haben zum Spaß Tischrücken veranstaltet. Mir war aber damals schon klar, dass dabei nicht ein Geist zu uns spricht, sondern dass wir die Antworten mit unbewussten Muskelbewegungen in einem sich selbst organisierenden System selbst produzieren. Und im Krimi „Totensteige“ geht es eigentlich um das Ringen von Rationalität und irrationalen Ängsten, mit denen die Medien ihre Geschäfte betreiben, wobei sie – und das sehe ich als reale Gefahr – unsere eigentlich aufgeklärten westlichen Gesellschaften an den Abgrund treiben. Es ist eben wie ein Spuk.

Kriminetz: Lisa Nerz lebt in Stuttgart. Passt sie mit ihrer Gratwanderung zwischen den Geschlechterrollen gut in die Stadt? So eine schräge Figur assoziiert man als jemand, der nicht dort lebt, nicht auf Anhieb mit der Schwabenmetropole. Könnte Lisa auch woanders leben?

Lehmann: Man würde Lisa Nerz eher in Berlin oder Hamburg vermuten. Aber gerade das hat mich bewogen, sie in Stuttgart zu lassen. Es gibt der Schwabenmetropole etwas ungeahnt aufmüpfiges und ungemütliches. Die Stuttgarter/innen kommen inzwischen auch gut mit ihr zurecht. Abgesehen davon, ist es besser, die Protagonistin einer Serie ist dort zu Hause, wo ich mich als Autorin halbwegs auskenne.

Kriminetz: Hast du, wenn du einen Krimi beginnst, den gesamten Handlungsverlauf komplett fertig? Oder weißt du zu Anfang das Ende noch nicht und wirst selbst davon überrascht?

Lehmann: Ich weiß in der Tat nicht, wie es ausgeht. Das macht es für mich spannend. Ich weiß zunächst nur das Thema, dann fallen mir Orte dazu ein und Figuren, die dort ihren Interessen nachgehen. Da mische ich Lisa Nerz drunter, und schaue, wann es explodiert. Gewissermaßen sind meine Krimis für mich kleine Studien einer fremden, seltsamen Welt, auf die ich stets sehr neugierig bin. Und oft erweist sie sich am Schluss als anders, als ich es zu Beginn noch gedacht habe.

Kriminetz: „Totensteige“ ist der zehnte Lisa Nerz-Krimi. Entdeckst du beim Schreiben neue Facetten in Lisas Charakter, die dir bislang verborgen waren und wenn ja, welche? Kommt es vor, dass Lisa sich eine Szene anders vorstellt und wer von euch beiden setzt sich dann durch?

Lehmann: Lisa Nerz entwickelt sich zwangsläufig, weil auch ich älter werde und Erfahrungen dazugewinne. Sie ist inzwischen zuweilen auch mal etwas klüger im Umgang mit Konflikten. Sie reagiert inzwischen auch differenzierter. Dass sie meist aber nicht sonderlich opportunistisch oder angepasst ist, macht mir mehr Spaß. Und selbst wenn Lisa jetzt vielleicht gern mal alles richtig machen möchte, so erlaube ich es ihr nicht. Sie tappt stellvertretend für uns in so manche Falle und befreit sich mit Frechheit, die wir uns auch nicht herausnehmen würden.

Kriminetz: Du bist Schriftstellerin und Journalistin. Als Schriftstellerin arbeitest du mit Fiktion, als Journalistin mit Fakten. Nimmst du dir eine Auszeit von deinen anderen Tätigkeiten, wenn du in deine fiktive Schreibwelt eintauchst?

Lehmann: Nein, wie sollte das gehen? Ich gehe arbeiten und ich schreibe zu Hause. Und nebenbei – und genau das erzähle ich in dem Krimi ja auch – sind die Welten der Fakten und der Fiktion so verschieden nicht. Zum einen bearbeite ich beide mit Sprache. Zum andern verwende ich Fakten in meinen Krimis, und schließlich schaffen auch die Medien Fiktionen, selbst wenn sie behaupten, sie hätten die Wahrheit für uns. Zuweilen tun sie es sogar absichtlich. Oder sie konzentrieren sich auf einfache Nebenaspekte eines komplexen politischen oder gesellschaftlichen Themas und machen daraus ein Skandal, er an sich keiner ist, zumindest aber am eigentlichen Problem vorbeigeht. Und insgeheim wissen wir das auch. Inzwischen geht genau das auch einer zunehmenden Zahl von Medien-Konsumenten auf den Geist.

Kriminetz: Lisa Nerz hat einen Gefährten zur Seite, den sie bedingungslos zu lieben scheint: ihren Dackel Cipión. Teilt die Autorin Christine Lehmann ihr Leben ebenfalls mit einem vierbeinigen Gefährten?

Lehmann: Nein, nein, Lisa liebt ihren Dackel nicht. Sie hat ihn nur, weil sie ihn einst aus einer Höhle gerettet hat. Er liebt übrigens Lisas Ermittlungspartner Richard Weber viel mehr. Allerdings ist Cipión im Gespann oft der, der auf der Gefühlsebene vermittelt, der überhaupt überschäumende Gefühle zeigt, auf der anderen Seite aber auch warnt, wenn Gefahr droht. In meinen Krimis steht Lisa für das Chaotisierende und Störende, Richard Weber für Rationalität, Rechtsstaat und Verantwortung und Cipión für unmittelbare Gefühle und biologische Lebendigkeit, wobei er eine elementare Verbindung zwischen Richard und Lisa schafft.

Kriminetz: Wie gefällt dir persönlich der Kleiderstil von Lisa Nerz?

Lehmann: Falls man da von Stil sprechen kann: Lisa trägt Anzüge oder Hardcore-Leder, aber auch gern mal Mini mit Lacklederstiefeln. Oder sie verkleidet sich, wenn nötig, mit Rock und Blazer als Bürgerliche. Lisas Kleider sind allesamt Mummenschanz, Verkleidung, Signale einer momentanen Identität, jedoch keiner dauerhaften, mit der sie entweder schocken will oder sich versteckt, um – beispielsweise in der Rolle eines Mannes – das herauszufinden, was sie als Frau nicht herausfinden würde. Sie spielt Gesellschaftsrollen. Sehr oft spielt sie übrigens bewusst die falsche, die inadäquate Rolle, um eingespielte Verhaltensmuster aufzubrechen und an den Kern unseres Verhaltens als Männer und Frauen, als Mächtige und Ohnmächtige, als Gegner oder Freunde heranzukommen. Sie experimentiert für uns Frauen mit allen Aspekten textiler Aussagen in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen, und das so, dass wir darüber lachen können, während wir darüber nachdenken, wie angepasst oft unsere Gesten und Stile der Unangepasstheit sind.

Kriminetz: Vielen Dank, Christine Lehmann, für die Beantwortung der Fragen.

Blog von Christine Lehmann: http://christine-lehmann.blogspot.de