
»Ich folge dir bis ans Ende der Welt, aber nicht nach Gießen.« Mit diesem Satz ihrer Mutter begann Ingrid Noll an einem Sommernachmittag auf der Terrasse ihrer Weinheimer Villa mit der Erzählung ihrer Familiengeschichte. Die Bestsellerautorin und ihre Geschwister wurden in Shanghai geboren, wohin ihre Eltern ausgewandert waren. Ihr Vater war der Arzt Dr. Kurt Noll (1900 – 1955), der 1925 mit seiner Ehefrau nach China auswanderte und einige Jahre später ein kleines Krankenhaus in Shanghai eröffnete. Während einer Fortbildung in Genf hatte er einen chinesischen Arzt kennengelernt, der ihn in sein Heimatland einlud. Zunächst versorgte Dr. Kurt Noll norwegische Matrosen. Mit der Eröffnung der eigenen Klinik gehörten dann bald Regierungsmitglieder zu seinen Patienten. In »Dr. Noll’s private Hospital«, wie die Einrichtung hieß, wurden Operationen durchgeführt. Es wurden Tropen- und andere Krankheiten behandelt sowie Babys zur Welt gebracht.
Etwa im Zeitraum 1929/30 ließ sich Dr. Kurt Noll von einem chinesischen Schreiner einen hölzernen Koffer fertigen, in dem er seine Instrumente unterbringen konnte. Der erwies sich als praktisch zum Mitnehmen, wenn es etwa auf Expeditionen und Jagdreisen in die Mongolei ging oder er etwa zu einem Flugzeugabsturz gerufen wurde. Auch bei Hausbesuchen leistete er gute Dienste. Einmal rettete Dr. Noll das Leben eines bereits für tot erklärten Kindes durch einen Luftröhrenschnitt. Der Instrumentenkoffer kam also sehr oft zum Einsatz.
Familie Noll startete 1938 einen Versuch, wieder in Deutschland sesshaft zu werden. Das, was sie in Deutschland vorfanden, gefiel ihnen jedoch ganz und gar nicht und so reisten sie Hals über Kopf mit der sibirischen Eisenbahn wieder zurück nach China, wo Dr. Kurt Noll nun eine eigene Praxis führte.
1949 landete der Instrumentenkoffer nebst Familie Noll auf der Flucht vor Maos Truppen allerdings erneut und dieses Mal für immer in Deutschland. Mit einem sog. »Seelenverkäufer« war die Familie insgesamt zwei Monate lang übers Meer unterwegs, erste Anlaufstelle war Genua. Weil Papiere fehlten, wurden sie fürs Erste in einem Lager untergebracht, mit sehr vielen Menschen gemeinsam in einem großen Raum. Was für die Erwachsenen gewöhnungsbedürftig war, fanden die Kinder ganz toll. Über Stationen in Turin und Rom ging es, als endlich die Papiere eingetroffen waren, zu Verwandten nach Korbach, wobei die Kinder aufgrund der räumlichen Bedingungen im Garten zelteten. Die Familie ging dann nach Bonn, wo Dr. Kurt Noll auch Diplomaten als Patienten hatte.
Eine Affinität zum Arztberuf ist wohl geblieben, denn obwohl Ingrid Noll selbst ein Studium der Germanistik und Kunstgeschichte aufnahm, heiratete sie einen Mann, der denselben Beruf wie ihr Vater ausübte. Und diesem Dr. Peter Gullatz wurde der mittlerweile historische Instrumentenkoffer von seiner Schwiegermutter übergeben, als diese einst betagt bei der Familie ihrer Tochter in Weinheim einzog, wo Dr. Peter Gullatz als Oberarzt und Facharzt für Innere Medizin tätig war.
Auf der Suche nach einer geeigneten dauerhaften Aufbewahrung des Koffers mitsamt seines damals vielseitig einsetzbaren Inhaltes kam durch Vermittlung einer Syndikatskollegin der Kontakt zu Professorin Dr. phil. Karen Nolte zustande, die an der Heidelberger Universität das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin leitet. Die sagte auf Anfrage spontan zu, das Erinnerungsstück für die Universität in Verwahrung zu nehmen.
Und so kam es, dass das wertvolle Erinnerungsstück einer der erfolgreichsten deutschen Krimi-Autorinnen der Gegenwart, deren Bücher in 27 Sprachen übersetzt und deren Romane verfilmt wurden, als Zeitdokument fortan an der Universität in Heidelberg aufbewahrt wird, das wie Weinheim auch zur Bergstraße gehört.

