Eines vorneweg: Ich sah Lenas Tante, wie etliche andere Filme auch, im Freiluftkino. Es ist ein sensationelles Erlebnis, beim Festival des deutschen Films in Ludwigshafen am Rhein den Geschichten auf der Leinwand inmitten der Natur zu folgen. Während man mit Kopfhörern auf der bestuhlten Fläche vor der überdimensionierten Leinwand sitzt, schippern auf dem Rhein Frachtkähne und Fluss-Kreuzfahrtschiffe vorbei. Und während auf der Leinwand Filme laufen und über den Köpfen der Gäste die Blätter der Pappeln rascheln, huscht der Blick hinüber auf die andere Seite. Dort drüben, im Lindenhof, zu den erleuchteten Fenstern. Hinter vielen dieser Fenster lauert womöglich ebenfalls eine Geschichte, die es wert wäre, erzählt zu werden. Der angestrahlte Kirchturm ragt in die Nacht wie ein Fels in der Dunkelheit. Was hat sich dort alles ereignet? Hochzeiten, Taufen, Konfirmationen. Leben ohne Ende. So wie auf der Leinwand. Außer, man guckt einen Krimi.
Aber nun zum Film. In der Eingangsszene von Lenas Tante wird eine Urfurcht im Menschen angesprochen: Nämlich die, lebend beigesetzt zu werden. Wie lässt sich das toppen? Genau. Man wird lebend in den 1200 Grad heißen Ofen des Krematoriums geschoben. Oder hat der Angestellte lediglich halluziniert und in dem zur Einäscherung bestimmten Sarg lag in Wahrheit eine Leiche? Ein Fall für Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und Johanna Stern (Lisa Bitter), obwohl Lena gleich weiter muss. Ihre Tante, Staatsanwältin in Ruhestand, Dr. Niki Odenthal (Ursula Werner), steht am Bahnhof und wartet auf sie.
Dr. Niki Odenthal hat Pläne mit ihrer Nichte, ihrer Ansicht nach sollte die sich mehr um ihre Karriere kümmern. „Wie hältst du das bloß hier aus?“, fragt sie bezüglich der Stadt. Worauf Lena antwortet: „Ich werde der Stadt immer ähnlicher. Ich fühle mich wohl hier.“
Es stellt sich heraus, dass das Opfer im aktuellen Fall, Herr Herrwig, 96 Jahre alt war und in einem Altersheim wohnte, wo er alle schikanierte. Irgendwer hat ihm eine Hammerdosis Insulin verabreicht. Dabei fahren die Vitalwerte so weit herunter, dass man in einem dem Tode ähnlichen Zustand ist. Deshalb waren für den Arzt, der pflichtgemäß den Totenschein ausstellte, keine Vitalzeichen mehr feststellbar. „Spektakulär!“, kommentiert Lenas Tante die Verbrennung eines Lebenden. „Das ist genau der Fall, den du brauchst, um von hier weg zu kommen.“
Lena sucht den Enkel von Herrn Herrweg auf, der sehr obstrusen Ideen nachhängt und der eine Verschwörung im Zusammenhang mit dem Tod seines Großvaters, der seiner Ansicht nach über viel unbequemes Wissen verfügte, vermutet. Der Enkel durchforstet das Haus des Getöten. Die Filmmusik stimmt darauf ein, dass er etwas für die Handlung überaus Wichtiges zutage fördern wird. Und das ist es dann natürlich auch.
Währenddessen bemerkt Lena, dass ihre Tante selbst offenbar hinter ihrem Rücken ermittelt. Sogar im „Altenstift Kurpfalz“ schaut sie sich, fälschlicherweise vermutet heimlich, um. Ganz offensichtlich verbirgt sie etwas vor ihrer Nichte. „Ihre Tante will, dass Sie das hier zu einem guten Ende bringen“, heißt es kurz vor dem Schluss. „Und wenn es nicht gut ist?“ „Dann ist es nicht das Ende.“
Lenas Tante war als Staatsanwältin als Nazijägerin aktiv. Es wurden etliche SS-Schergen aufgespürt, aber nicht alle, noch nicht einmal viele, konnten verurteilt werden. Woraus der Film hinausläuft, verdichtet sich immer mehr. Ich will hier nicht spoilern und halte diese Folge für eine der besten der Reihe, die unbedingt sehenswert ist. Johanna Stern darf dieses Mal sogar eine Romanze ausleben. Lenas Tante wird genial von Ursula Werner gespielt. Eigentlich ist es „ihr“ Film, in dem sie mit dieser Rolle absolut brilliert. Es ist ein Genuss, ihr dabei zuzusehen. Lena Odenthal zeigt eine sehr verletzliche Seite. Sie wuchs nämlich bei ihrer Tante auf, als ihre Mutter mit einem LKW-Fahrer nach Spanien durchbrannte. Lena war 10, als ihre Tante sie ohne zu zögern bei sich aufnahm.
Schön sind die Kamera-Fahrten über das nächtliche Ludwigshafen. Die Stadt hat einen ganz eigenen, unverwechselbaren rauen Charme einer Industriestadt, den Michael Merkel gut eingefangen hat.
Im 77. Lena-Odenthal-Tatort spielen: Ulrike Folkerts, Lisa Bitter, Ursula Werner, Annalena Schmidt, Peter Espeloer, Kailas Mahadevan, Niklas Kohrt, Johannes Dullin, Gábor Biedermann, Tobias Lenel u. a. Regie von Tom Lass und nach einem Drehbuch von Stefan Dähnert. Der "TATORT Lenas Tante" ist eine Produktion des SWR. Produzent ist Nils Reinhardt, Kamera: Michael Merkel, Schnitt Sabine Garscha, Szenenbild Stefanie Probst, Kostümbild Stephanie Kühne, Besetzung Ulrike Müller, Produktionsleitung Mike Sauer. Die Redaktion lag bei Ulrich Herrmann.
Nach der Vorführung beim Festival des deutschen Films in Ludwigshafen am Rhein bat Moderator Josef Schnelle zum Gespräch mit den Schauspielerinnen Ursula Werner, Ulrike Folkerts und Lisa Bitter, den Schauspielern Peter Espeloer und Niklas Kohrt sowie dem Drehbuchautor Stefan Dähnert.
Ulrike Folkerts liebt nach ihrer Aussage die Abwechslung beim TATORT und dass auch Experimente möglich sind. „Ich finde die Reichhaltigkeit genial. Stefan Dähnert hat schon „Tod im Hecksler“ „mitverbrochen“. Ich würde für den TATORT immer in die Bresche steigen, das ist „mein Baby“.“ Josef Schnelle pflichtet bei, dass man jedes Thema, jeden Stil, jede Region im TATORT präsentieren kann.
Drehbuchautor Stefan Dähnert findet die Spannbreite beim TATORT toll. „Wir versuchen, es mit gesellschaftlich relevanten Themen zu bespielen, das macht die Form aus.“ Schauspielerin Ursula Werner entgegnet dem Einwand eines nach eigenen Angaben 70jährigen Zuschauers, der keine TATORTe mehr guckt (aber diesen offenbar doch) „Öffnen Sie sich dem Neuen, versäumen Sie es nicht!“
Lisa Bitter findet Ludwigshafen ungewöhnlich und kommt gerne hierher. Ulrike Folkerts erklärt, dass es das Budget übersteigen würde, wenn das gesamte Film-Team über Wochen hinweg in Ludwigshafen logieren würde. Sie erzählt von dem Haus in Baden-Baden, das der SWR gemietet hat, in dem drei Kommissariate und die Pathologie untergebracht sind. „Ludwigshafen ist wirklich speziell. Dieses Filmfest hier ist der Hammer! Wenn die Gäste nicht kommen, funktioniert das nicht. Und ich komme auch gerne hierher. Ich fühle eine tiefe Verbundenheit zu diesem besonderen Städtchen, das ja nicht einfach ist in seiner Struktur. Ich bin gerne hier.“
Ursula Werner freut sich über die herzliche und sonnige Begrüßung. Sie war früher schon als Theaterschauspielerin anlässlich von Gastspielen im Pfalzbautheater. Josef Schnelle bringt das Gespräch zu Ende: „Eine Kaskade von Liebeserklärungen an die Stadt ist ein schöner Schluss.“
"Lenas Tante" ist eine Produktion des SWR. Produzent ist Nils Reinhardt, Kamera: Michael Merkel, Schnitt Sabine Garscha, Szenenbild Stefanie Probst, Kostümbild Stephanie Kühne, Besetzung Ulrike Müller, Produktionsleitung Mike Sauer. Die Redaktion lag bei Ulrich Herrmann. Gedreht wurde in Ludwigshafen, Offenburg und Baden-Baden.
Die Ausstrahlung im Ersten ist voraussichtlich 2023.
Das Festival findet vom 24. August bis zum 11. September 2022 statt. Das gesamte Programm findet ihr auf der Festivalseite Festival des deutschen Films.