Sieben Fragen an Anne Kuhlmeyer

Die Schriftstellerin Anne Kuhlmeyer. Foto: © Christiane Nitsche

Anne Kuhlmeyer war zwanzig Jahre als Anästhesistin, Intensiv- und Rettungsmedizinerin, sowie als Schmerztherapeutin an verschiedenen Kliniken tätig, seit 2009 ist sie ausschließlich ärztliche Psychotherapeutin mit Spezialisierung auf Psychotraumatologie. 2003 begann sie parallel dazu mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit und verfasste mehrere Kriminalromane und Kurzgeschichten. Seit 2011 schreibt sie für das online-Feuilleton Culturmag.de. Pünktlich zur Leipziger Buchmesse erschien ihr Thriller Night-Train bei KBV.

Die Schriftstellerin wurde in Leipzig geboren, wo sie auch Medizin studierte. Sie lebt mit ihrer Familie in Coesfeld.

Für Kriminetz hat Anne Kuhlmeyer sieben Fragen beantwortet.

Kriminetz: Schreiben und Psychotherapie – was sind die Gemeinsamkeiten?

Anne Kuhlmeyer: Die Sprache. Sie ist Verbindung und Trennung. Ich arbeite tiefenpsychologisch, d.h. es geht neben dem Ziel, die Symptome zu mindern, auch um das Verstehen, weshalb man so geworden ist, wie man geworden ist. Strategien und Verhaltensmuster, die wir bis zum Grundschulalter erlernen, begleiten uns oft lebenslang und sind mehr oder minder tauglich für aktuell zu lösende Probleme. Gelingt das mittels der erlernten Strategien nicht so gut, sind Symptome die zweitbeste Lösung für einen Konflikt, der uns erst einmal nicht bewusst ist. Um so einen Konflikt bewusst und damit einer alternativen Lösung zugänglich zu machen, redet man. Damit schafft man ein drittes Objekt, wenn man so will, zwischen dem DU und dem ICH, einen Raum, in dem es die Chance gibt, sich zu verstehen auf der einen Seite und sich abzugrenzen auf der anderen Seite. (Das wär die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mal in Ultrakurzform zusammengefasst.) Beim Schreiben tue ich letztlich nichts anderes, als eben diesen Raum für eine Geschichte zu nutzen, wenn auch nicht mit einem konkreten Gegenüber.
Daneben ist es so, dass die Einsichten, die ich durch die Arbeit mit Patienten über ihr spezifisches und individuelles Sosein gewonnen habe, mein Schreiben beeinflussen. Und umgekehrt hat die Beschäftigung mit Literatur meinen Blick geschärft für das, was Menschen über sich sagen, darüber, wie sie die Welt sehen, auch für das, was sie nicht sagen. Letzteres ist vielleicht das Erstaunlichste.

Kriminetz: Mit dem Arztberuf geht eine sehr hohe Verantwortung einher. Ist dies eine Art Last, die mit den Jahren immer schwerer wird oder überwiegt das positive Erlebnis des Helfens und Begleitens?

Anne Kuhlmeyer: Es gibt sicher sehr unterschiedlich Motive, weshalb jemand Arzt wird. Bei mir war es gewiss ein altruistischer Ansatz. (Wobei Altruismus auch immer dem Selbst dient. Schließlich bekommt man die Freude des Anderen geschenkt, wenn etwas gelungen ist, der Andere genesen oder zumindest seine Krankheit gebessert ist.) Als Anästhesistin wollte ich nach den vielen Jahren nicht mehr arbeiten, weil der Beruf tatsächlich erhebliche Belastungen mit sich bringt. Heißt: Es könnte jemand sterben. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht so hoch, aber es kommt vor, diese Möglichkeit verursacht durchaus Stress. Außerdem habe ich immer neue, spannende Aufgaben gesucht (und gefunden). Meine Diplomarbeit schrieb ich damals in der Psychotherapie, da lag es nicht so fern, eine psychotherapeutische Zusatzausbildung zu absolvieren. Heute bin ich sehr froh mit meiner Entscheidung. Die Psychotherapie ist eine Arbeit, deren existenzielle Seite vielleicht nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, wie das bei der Anästhesie der Fall ist. Aber die Erkenntnis, durch diesen Beruf grundlegend mit individuell und sozial Existenziellem befasst zu sein, hat mich zunächst tief beeindruckt und dann neue Anschauungen geprägt, die sich natürlich in meinen Texten zeigen.

Kriminetz: Weshalb hast du einen Zug für das Aufeinandertreffen von Nicola und André in „Nighttrain“ gewählt?

Anne Kuhlmeyer: In Zügen kann man die gesamte Gesellschaft unterbringen. Omas, Studenten, Clowns, Geschäftsreisende, Kinder. André und Nicola sind sehr unterschiedliche Menschen aus völlig unterschiedlichen Milieus. Die hätten sich sonst nie getroffen. Außerdem ist man genötigt, in einem Zug zu verweilen, ob einem das nun gefällt oder nicht, jedenfalls so lange er fährt. Man ist geradezu in einer Zwangssituation. Im Roman wird dieser Umstand auf die Spitze getrieben. André und Nicola geraten auf ihrer Flucht in einen Sonderzug, der, na, ich sag mal, sehr speziell ist. Mehr will ich nicht verraten.

Kriminetz: Erscheint es dir verlockend, einfach in einen Zug einzusteigen und mit unbekanntem Ziel irgendwohin zu fahren?

Anne Kuhlmeyer: Sehr! Entweder ein unbekanntes Ziel oder mit dem TRANSIB nach Wladiwostok. Bisher bin ich leider kaum gereist. Zu viele Aufgaben, die mich davon abhielten. Aber es ist eine große Sehnsucht.

Kriminetz: Du hast „Thymian und Blut“ zunächst als E-Book bei Neobooks veröffentlicht. Hast du gute Erfahrungen mit diesem Portal gemacht und würdest du anderen AutorInnen dies empfehlen?

Anne Kuhlmeyer: Ich denke, ein Text ist bei einem Verlag am besten aufgehoben. Ich schätze das Lektorat, den Austausch über Inhalt und Form. Deswegen würde ich, gleichgültig auf welcher Plattform, nur dann erneut selbst publizieren, wenn es gar keine Möglichkeit der Veröffentlichung gibt. Insofern ist Neobooks gewiss ein Ort, den man in Erwägung ziehen kann. Für „Thymian und Blut“ freue ich mich, dass es bei Midnight by Ullstein untergekommen ist. So ein merkwürdiger Text wird längst nicht ohne Weiteres verlegt, auch als eBook nicht.

Kriminetz: Was machst du, wenn du entspannen möchtest?

Anne Kuhlmeyer: Pilze suchen. Fotografieren, wenn es gerade keine Pilze gibt. Musik hören. Vor mich hin gucken. Im Garten kramen. Kochen. „Inspektor Barnaby“ schauen (da schlaf ich gut, bevor ich den Schluss erlebe). Lesen natürlich, obwohl der Wunsch nach Entspannung dem zu widersprechen scheint, denn ich mag natürlich Spannungsliteratur. Vielleicht besteht der Entspannungseffekt darin, dass ich mich auf etwas anderes fokussiere (und überhaupt fokussiere).

Kriminetz: Wie muss ein Krimi geschrieben sein, damit du ihn nicht nach 50 Seiten zur Seite legst?

Anne Kuhlmeyer: Er muss mir eine Geschichte erzählen, die bedeutsam ist. Mich interessieren keine Rachegeschichten, z.B. wie eine Frau ihren Mann umbringt oder umgekehrt, wenn sie nicht in einem sozialen Kontext stehen.
Wünschenswert ist eine Sprache, die mich fasziniert, aber sie ist Mittel, nicht Selbstzweck. Kriminalliteratur kann (oder sollte ich sagen „könnte“?) so viel. Einen Teil davon möchte ich in einem Roman, den ich gerne lesen will, umgesetzt haben. Ich möchte einer anderen Sicht auf die Welt folgen. Ich möchte etwas erfahren, was ich noch nicht weiß. Ich möchte über ein Werk nachdenken können. Im besten Fall soll es mich begleiten, durch den Tag, durch das Jahr, länger …

Kriminetz: Vielen Dank, Anne Kuhlmeyer, für die Beantwortung der Fragen.

Anne Kuhlmeyer: Ich habe zu danken für die ungewöhnlichen Fragen.

Zur Website von Anne Kuhlmeyer hier klicken und hier zu ihrem Blog.