Sieben Fragen an Gila Lustiger

Gila Lustiger hat mit "Die Schuld der anderen" einen Kriminalroman geschrieben. Foto: © Lillian Birnbaum

Die Schriftstellerin Gila Lustiger lebt seit beinahe drei Jahrzehnten in Paris. Sie studierte Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Aufgewachsen ist sie in ihrer Geburtsstadt Frankfurt am Main. Mit ihrem Familienroman So sind wir (2005 veröffentlicht) stand sie auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuvor waren bereits ihre Romane Die Bestandsaufnahme und Aus einer schönen Welt erschienen und im Jahr 2011 dann ihr Roman Woran denkst du jetzt. Gila Lustiger nahm 1997 am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil.

Für Kriminetz beantwortete Gila Lustiger sieben Fragen.

Kriminetz: Mit „Die Schuld der anderen“ haben Sie erstmals einen Kriminalroman geschrieben. Weshalb fiel die Entscheidung für dieses Genre? Gab es dabei „Berührungsängste“ zu überwinden?

Gila Lustiger: Ich lese seit meiner Jugend Krimis. Sogar leidenschaftlich. Ich habe mit Conan Doyle, Chesterton, Agatha Christie und Dorothy L. Sayers angefangen. Und dann habe ich das Wunder entdeckt, das mit dem Wort „hard-boiled“ zusammengefasst wird. Ich glaube ich habe Sam Spade, Marlowe und Lew Archer auf ziemlich all ihren Fällen begleitet. Berührungsängste gab es daher nicht. Ich wollte schon immer einen Krimi schreiben. Ich wusste aber auch, worauf ich mich einlasse. Und dass es nicht nur auf den Ton ankommt, die Stimme des Erzählers, seinen Blick auf die Welt, sondern auch auf die Struktur. Vor allen Dingen auf Struktur. Ein Krimi, egal ob psychologisch oder gesellschaftskritisch, ob Agententhriller oder Detektivgeschichte braucht ein verdammt gutes Gerüst, um zu funktionieren. Es reicht nicht aus ein paar Motive zu platzieren, ein paar Fährten zu legen. Die Struktur muss so ausgeklügelt sein, dass sie organisch wirkt. Alles was geschieht überrascht einen und doch hätte es sich nur so und nicht anders ereignen können. Um das hinzukriegen, muss man jedes einzelne Motiv logisch einführen. Das ist eine wahnsinnige Arbeit. Eine wahnsinnige Tüftelei.

Kriminetz: Der Journalist Marc Rappaport kommt einem Chemie-Skandal auf die Spur und steigt immer tiefer ein in seine Ermittlungen. Was war für Sie der Auslöser, auf diesem Gebiet zu recherchieren?

Gila Lustiger: Ich habe fast zwei Jahre für dieses Buch recherchiert. Und die Entstehungsgeschichte ist eigentlich untypisch. Ich wollte gar kein Buch schreiben. Ich hatte nur irgendwann das Gefühl, das Land, in dem ich fast dreißig Jahre lebe, nicht mehr zu verstehen. Etwas ging hier vor. Etwas war dabei sich zu verändern. Die rechtspopulistische Partei FN wurde in den Regionalwahlen zweitgrößte Partei Frankreichs. In den Vororten fackelten Jugendliche Autos ab. Hebammen, Lehrer, Rechtsanwälte, Taxifahrer und Landwirte ... zogen streikend durch die Straßen. Die ersten Islamlisten erschienen auf der Bildfläche. Antisemitische Übergriffe verdoppelten sich. Kurz, die Zivilgesellschaft brach vor meinen Augen auseinander und keiner aus der Politik, der Wirtschaft, den Medien schien das wahrhaben zu wollen oder auch nur zu interessieren. Ich las keine Kommentare darüber. Und ich fragte mich, wo kommt dieser Unmut her? Ich lebe in Paris in einem guten Viertel, ich habe nette, kluge Freunde, ich lebe in der besten aller Welten ... es war mir klar, dass ich, will ich wirklich Antworten finden, losziehen muss. Ich bin also durch die Vororte getingelt, durch Industriekleinstädte mit hoher Arbeitslosigkeitsquote, durch die Provinz, bin Menschen begegnet. Auf einem meiner Streifzüge stieß ich auf diesen Chemie-Skandal. Er hat sich wirklich ereignet. Und ich habe die Opfer getroffen. Was mich an ihnen am meisten beeindruckt hat ist, dass sie stumm sind. Sie wurden stumm geboren. Keiner interessiert sich für sie, weil sie den gängigen Diskurs nicht beherrschen. Sie wissen nicht, wie sie das, was ihnen widerfahren ist, erzählen können, damit es die Öffentlichkeit interessiert.

Kriminetz: Politiker kommen in Ihrem Roman nicht gerade gut weg. „Die Selbstinszenierung (hatte) die symbolische Geste“ verdrängt und es wird ein Geflecht mit der Wirtschaft aufgezeigt, bei dem beide Seiten erheblich profitieren. Ist das Ausmaß an Korruption derart schlimm? Hat jeder irgendwo, ab einer gewissen Höhe, „seinen“ Preis, zu dem er käuflich wird?

Gila Lustiger: Dies ist ein „roman noir“ geworden. Das überrascht mich selber. Ich hoffe jedoch, dass ich keine Welt darstelle, in der alles schön sauber in schwarz und weiß aufgeteilt ist. Ich blicke seit jeher lieber auf die Grauzonen. Ich überlasse es anderen zu entscheiden was Gut und Böse ist. Mich interessieren die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umstände, die Verlierer zu Verlierern macht. Oder um es mit Simenon auszudrücken „was kann einem Mensch widerfahren, das ihn zwingt, bis ans Ende seiner selbst zu gehen?“

Kriminetz: Im Nachwort findet sich eine Danksagung an die Pariser Polizei, die Sie „sechs Wochen durch den Dschungel der Stadt“ begleiten durften“. Wie darf man sich das vorstellen? Fuhren Sie im Streifenwagen mit? War das nicht gefährlich?

Gila Lustiger: Ja, ich war sechs Wochen lang mit dabei. Auch im Streifenwagen. Was mich am meisten überrascht hat? Die Täter werden überführt, weil sie fahrlässig handeln. Die derzeit „berühmtesten“ unbesonnenen Täter sind die Brüder Kouachi, die in der Redaktion von "Charlie Hebdo" zwölf Menschen getötete haben. Sie wurden geschnappt, weil einer von ihnen im Fluchtfahrzeug seinen Pass hat liegenlassen. Sie haben das Blutbad, das sie angerichtet haben, monatelang, wenn nicht jahrelang geplant. Sie haben sich Kampfgewehre besorgt, haben sich ausbilden lassen. Sie haben sich zwei Jahre lang gezielt ruhig verhalten. Sie wussten, dass der Geheimdienst sie ins Visier nimmt und waren „Schläfer“. All das, um dann was? Im Fluchtauto den Pass zu vergessen. Würde man das schreiben, würde es keiner glauben.

Kriminetz: Sie sind in Frankfurt am Main aufgewachsen – vermissen Sie in Frankreich etwas, das es nur in ihrer Geburtsstadt gibt?

Gila Lustiger: Ja. Mein Dinkel-Roggen-Vollkornbrot, das ich beim Biobäcker in Sachsenhausen kaufe.

Kriminetz: Ein Zitat aus „Die Schuld der anderen“: „Und wer gehörte eigentlich zur Gemeinschaft, deren Wohl angestrebt wurde, und wer nicht?“ Ist es für den Einzelnen wählbar, zur Gemeinschaft zu gehören oder wird die Entscheidung anderswo gefällt?

Gila Lustiger: Auch damit setzt sich dieser Roman auseinander.

Kriminetz: Ist nach den Ereignissen Anfang Januar in Paris im Alltag ein Zusammenrücken der Menschen feststellbar? Gibt es so etwas wie einen „Schulterschluss“?

Gila Lustiger: Die Konflikte, die zu den Attentaten geführt haben, lassen sich nicht so einfach aus der Welt schaffen. Es reicht nicht aus, dass Menschen an einem Nachmittag nebeneinander demonstrieren. Leider nicht, möchte ich hinzufügen.

Vielen Dank, Gila Lustiger, für die Beantwortung der Fragen.

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