Sieben Fragen an Kathrin Yen

Professorin Dr. med. univ. Kathrin Yen, Direktorin des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg. Foto: © Pressefoto Universität Heidelberg

Frau Professorin Dr. med. univ. Kathrin Yen ist leitende ärztliche Direktorin des Instituts für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg. Sie leitete zuvor das Ludwig Boltzmann Institut für Klinisch-Forensische Bildgebung in Graz und von 2007 bis 2009 die Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Graz in der Steiermark.

Am Heidelberger Institut sind ungefähr 50 MitarbeiterInnen in interdisziplinärer Kooperation tätig, darunter etwa 15 WissenschaftlerInnen aus den Bereichen Medizin, Biologie, Chemie, Pharmazie, Psychologie und Medizininformatik.

Für Kriminetz beantwortete Kathrin Yen sieben Fragen.

Kriminetz: Wann tritt der Tod ein? Ab wann gilt ein Mensch tatsächlich als tot?

Kathrin Yen: Das Sterben ist ein Prozess, der schneller – über Minuten, oder langsamer – über Stunden bis Tage, gar Wochen abläuft. Der Tod tritt nur in ganz wenigen Fällen schlagartig ein. Nach dem Individualtod, damit ist ein irreversibler Herzstillstand oder ein irreversibler Ausfall des Gehirns gemeint, kommt es ebenfalls über einen gewissen Zeitraum zu einem Ausfall aller Organe und Systeme. Ab dem Moment des Individualtodes ist ein Mensch tot und nicht mehr reanimierbar. Äußerlich erkennen wir den sicher eingetretenen Tod am Auftreten von Leichenflecken, später der Leichenstarre und weiteren postmortalen Veränderungen – oder an Verletzungen, die mit dem Leben nicht vereinbar sind.

Kriminetz: Unter KrimiautorInnen kursiert die Annahme, dass Friedhöfe gut ausgeleuchtet wären, wenn auf allen Gräbern mit unerkannten Mordopfern Kerzen brennen würden. Wann sollten HausärztInnen bei einer Leichenschau skeptisch werden und die Polizei einschalten?

Kathrin Yen: Die ärztliche Leichenschau ist der letzte Dienst am Menschen und ein wichtiges Instrument, um gewaltsame Todesfälle zu erkennen. Damit meine ich nicht nur Tötungen und Morde, sondern auch Unfälle, Suizide oder Pflege- und Behandlungsfehler, die viel zu oft übersehen werden. Neben auffälligen Verletzungen und Befunden an der verstorbenen Person, die immer zum Einbezug der Polizei führen sollten, kann auch die Erwartbarkeit des Todes ein Mittel sein, natürliche Todesfälle von nicht natürlichen auseinanderzuhalten. Trat der Tod unerwartet ein und liegen keine eindeutigen Hinweise auf Vorerkrankungen vor, die den Tod zwanglos erklären können, so muss ein unklarer Tod bescheinigt und die Polizei benachrichtigt werden. Im Zweifel bieten wir klinischen KollegInnen auch an, sich an unseren rechtsmedizinischen 24-h Dienst zu wenden und den Fall zu besprechen.

Kriminetz: In Fernseh-Krimis werden im Rahmen der Handlung häufig RechtsmedizinerInnen an Fundorten von Leichen gezeigt. Hat dies in der Realität Bestand? Werden Sie tatsächlich an Ort und Stelle geholt, wenn Mordopfer gefunden werden?

Kathrin Yen: Das ist in den Krimis durchaus realistisch dargestellt, auch im »echten Leben« werden wir bei Tötungsverdacht an den Leichenfundort gerufen und untersuchen dort gemeinsam mit Polizei und Kriminaltechnik. Allerdings erscheinen wir nicht in Kleid, Anzug oder Krawatte, wie es im Film oft dargestellt wird, und wir benötigen mehr Zeit als nur einen schnellen Blick auf den Leichnam. Bei der Leichenschau am Fund- oder Tatort können sehr wichtige Informationen an der verstorbenen Person und in deren Umfeld gewonnen werden, die meist unwiederbringlich verloren sind, wenn man sie nicht zeitnah sichert. Die Arbeit am Tatort ist ein sehr interessanter Bestandteil unserer Arbeit, sie erfordert Erfahrung, Sorgfalt, forensisches Denken und Wissen, die Zusammenarbeit mit den anderen anwesenden Fachdisziplinen und auch die Fähigkeit, mit schwierigen Situationen physisch und psychisch umgehen zu können.

Kriminetz: Wird bei einer rechtsmedizinischen Untersuchung am Leichnam alles geöffnet? Ich habe gehört, bei einer pathologischen Sektion können die Angehörigen etwa die Erlaubnis für eine Gehirnsektion verweigern. Können Angehörige auch bei einer rechtsmedizinischen Untersuchung Bereiche für die Öffnung ausschließen?

Kathrin Yen: Die Standards der rechtsmedizinischen Leichenöffnung sehen eine Eröffnung aller drei Körperhöhlen vor, also der Kopf-, der Brust- und der Bauchhöhle. Je nach Fragestellung werden weitere Bereiche untersucht, zum Beispiel der Rücken und die Extremitäten. Die Angehörigen haben keine Möglichkeit, eine Obduktion abzulehnen, wenn diese staatsanwaltschaftlich angeordnet wurde. Allerdings bieten wir seit kurzem eine Art »Screeningverfahren« an, bei dem eine äußere Besichtigung des Leichnams und eine postmortale Computertomographie durchgeführt werden. Beide Verfahren sind nicht-invasiv. Auf Basis der Ergebnisse kann in einigen Fällen auf eine Leichenöffnung verzichtet werden. Entschieden wird darüber aber letztlich durch die Staatsanwaltschaft.

Kriminetz: An ihrem Institut gibt es eine Klinisch-Forensische Ambulanz für Gewalt- und Unfallopfer. Kann man sich selbst direkt dorthin wenden und ist es unbedingt notwendig, die Polizei einzuschalten?

Kathrin Yen: Die Heidelberger Gewaltambulanz richtet sich an alle Menschen, die Gewalt – körperlich oder sexuell – erlitten haben, unabhängig davon, woher sie kommen, wie alt sie sind etc. Eine Anzeige an die Polizei ist nicht erforderlich, die Untersuchungen werden auch verfahrensunabhängig angeboten. Falls es zu einem gewaltsamen Übergriff gekommen ist oder ein Verdacht darauf besteht, ist es wichtig, sich möglichst sofort an die Gewaltambulanz zu wenden, da viele Informationen sonst verloren werden. Die erhobenen Beweise sind wichtig für den Ausgang von Straf- oder Zivilverfahren. Der zweite Grund, weshalb solche Untersuchungen relevant sind, ist die Prävention. Menschen, die Gewalt erlitten haben, werden erkannt und können vor weiterer Gewalt geschützt werden. Denkt man zum Beispiel an Kindesmisshandlung und -Missbrauch, an häusliche und sexuelle Gewalt oder an Gewalt gegenüber betagten Personen, die oft in Abhängigkeitssituationen leben, so wird klar, welche Bedeutung dies hat.

Kriminetz: Neben dem Bereich der Rechtsmedizin umfasst das Institut, dem Sie vorstehen, auch die Verkehrsmedizin. Was wird dort gemacht?

Kathrin Yen: Aktuell bieten wir in der Verkehrsmedizin und unserem toxikologischen Fachbereich Untersuchungen an, mit denen beispielsweise die Abstinenz von Alkohol oder Drogen nachgewiesen werden kann. Auch die Fahreignung, ob man bei gewissen Krankheiten geeignet ist, ein Fahrzeug zu lenken, wird bei Bedarf beurteilt. Hinzu kommen zum Beispiel Begutachtungen nach Schleudertrauma der Halswirbelsäule nach Unfällen, die Rekonstruktion des Hergangs von Unfällen oder forensisch-radiologische Begutachtungen von Verletzungsfolgen.

Kriminetz: Der Bereich des Universitätsklinikums im Heidelberger Stadtteil Bergheim mutet von der Bebauung her sehr malerisch an. Beim Durchschlendern fühle ich mich auf angenehme Weise in frühere Zeiten versetzt, als Architekten Bauten ganz anders als heute gestalteten. Was schätzen Sie persönlich an Heidelberg besonders?

Kathrin Yen: Neben der Tatsache, dass Heidelberg eine weltoffene Stadt mit einer außergewöhnlichen Geschichte und Architektur ist und ich von meinem Büro aus jeden Tag den wunderbaren Blick auf den Neckar und den gegenüberliegenden Stadtteil Neuenheim genießen kann, schätze ich besonders die herausragenden Möglichkeiten zur interdisziplinären wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Heidelberg ist Standort des Universitätsklinikums, zu dem auch wir gehören, und weiterer bedeutsamer Forschungseinrichtungen in Deutschland wie dem Deutschen Krebsforschungszentrum und dem European Molecular Biology Laboratory, mit denen wir vernetzt sind. Derzeit entwickeln wir etwa eine durch Virtual Reality unterstützte telemedizinische Untersuchung von Kindern nach Missbrauch oder Misshandlung, und wir nützen modernste bildgebende Verfahren, die nur in Heidelberg verfügbar sind, um selbst kleinste Verletzungen nach Gewalt sichtbar machen zu können. Die Offenheit für Kooperationen und die Kollegialität, die ich hier erlebe, ist einzigartig.

Kriminetz: Vielen Dank, Frau Professorin Dr. med. univ. Kathrin Yen, für die Beantwortung der sieben Fragen.