Sieben Fragen an Leonhard F. Seidl

Foto: Katrin Heim

Leonhard F. Seidl veröffentlichte 2011 seinen ersten Roman Mutterkorn, der für den Förderpreis zum August Graf von Platen Literaturpreis nominiert wurde. Er lebt als freier Autor und Dozent für Kreatives Schreiben in Nürnberg. Aufgrund seines Engagements gegen Rechts ist er Pate zweier Schulen für Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Seine Texte wurden mehrfach ausgezeichnet und erscheinen in Anthologien, Zeitungen und Zeitschriften. Soeben ist sein Kriminalroman GENAGELT im emons-Verlag erschienen, der im oberbayerischen Isental spielt und die umkämpfte Isentalautobahn, Vorurteile und Korruption thematisiert.

Für Kriminetz beantwortete Leonhard F. Seidl sieben Fragen

Kriminetz: Du warst schon einmal im Knast. Welche Tat hast du begangen und zu wievielen Jahren wurdest du verurteilt?

Leonhard F. Seidl: Ich wurde zu einem halben Jahr verdonnert. Mein Vergehen war Soziale Arbeit zu studieren. Am Ende des Studiums habe ich eine Schreibwerkstatt mit straffälligen jungen Männern in der JVA Ebrach durchgeführt. Dafür musste ich jedes Wochenende in den Knast, habe Geschichten und Gedichte mit den beschriebenen Blättern verfasst. Da wird man sehr demütig, ist jedes Mal erleichtert, wenn man die Gefängnismauern wieder verlassen darf. Als Entschädigung habe ich ein Diplom und einen Preis für meine Arbeit erhalten.

Kriminetz: Bist du dadurch auf die Fährte des Kriminalromans gekommen?

Leonhard F. Seidl: Nein, das kam erst später. Ich wurde gefragt, ob ich für eine Zeitschrift Kurzkrimis schreiben möchte. Die ersten vier Versionen wurden abgelehnt. Aber als ich das Prinzip durchschaut hatte, auch dank der Hilfe eines Kollegen, ist es richtig geflutscht. Seitdem habe ich etliche Kurzkrimis und meinen Kriminalroman Genagelt geschrieben. Vermutlich auch, weil das Krimigenre besonders geeignet ist, um gesellschaftliche Missstände zu thematisieren.

Kriminetz: Du arbeitest in Schreibwerkstätten mit Studierenden, Menschen mit psychischer Erkrankung und Jugendlichen. Für Jugendliche hast du einen Krimischreibworkshop entwickelt, in dem du Elemente aus der Gewaltprävention verwendest. Ist das ein Resultat deiner „Vorstrafe“?

Leonhard F. Seidl: Nein, der Grund ist ein anderer. Vor allem in Schulklassen ist es oft eine Herausforderung die Jugendlichen für das Schreiben zu begeistern. Also habe ich mir überlegt, wo ich ansetzen könnte; und kam auf die Gefühle. Wenn man als Ausgangspunkt eine Situation nehmen würde, wo sie ihr Gegenüber am liebsten auf den Mond geschossen hätten, wäre es ihnen ein leichtes, sich in den Täter zu versetzen. Und schon hatte ich eine perfekte Ausgangssituation für ein Verbrechen. Im Zuge dieser Workshops thematisiere ich bspw. in lyrischer Form die Gefühle oder lasse sie Gefühle spielen und raten. Dazu muss man wissen, dass Sich mit Gefühlen auseinanderzusetzen ein Baustein der Gewaltprävention ist. Verblüffenderweise wollten die Jugendlichen sogar in der Pause durchschreiben. Und die Eltern haben sich bei der Lehrerin bedankt, weil ihre Kinder so begeistert waren und teilweise sogar noch zuhause weiter geschrieben haben.

Kriminetz: Du liest auch oft an Schulen. Wie erlebst du die Schülerinnen und Schüler?

Leonhard F. Seidl: Meinen Roman Mutterkorn, in dem es um den versuchten Anschlag von Neonazis auf die Grundsteinlegung des jüdischen Zentrums in München 2003 geht, habe ich schon an sehr vielen Schulen vorgestellt. Die Schülerinnen und Schüler folgen mir meist sehr aufmerksam. Was vielleicht auch daran liegt, dass ich Fotos und Videosequenzen eingebaut habe. Die Reaktionen schwanken von persönlicher Betroffenheit der Schülerinnen und Schüler bspw. über die NSU-Morde und die diskriminierende Arbeit von Teilen der Polizei bis hin zu offen rassistischen Bemerkungen.

Kriminetz: Ist das manchmal nicht auch schockierend?

Leonhard F. Seidl: Natürlich wäre es mir lieber, wenn dem nicht so wäre. Aber wenn man sich die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ansieht, ist das leider nicht verwunderlich. Da plappern die Jungen den gefährlichen Sermon der Alten nach. In der 2010 veröffentlichten Studie ist belegt worden, dass über die Hälfte der Menschen in Deutschland islamophobe Einstellungen und 35 Prozent ausländerfeindliche Tendenzen aufweisen. Die Ergebnisse wurden auch von anderer Seite bestätigt.

Kriminetz: Du wohnst in Nürnberg, Genagelt spielt im oberbayerischen Isental. Wie kam‘s?

Leonhard F. Seidl: Ich bin in Isen, einem kleinen Ort nahe des Isentals aufgewachsen. Seitdem ich denken kann, kämpfen die Menschen dort gegen die Autobahn durchs Isental, gegen die A94. Obwohl ich ein kritischer und auch politischer Mensch bin, habe ich das all die Jahre nur am Rande wahrgenommen, vermutlich, weil ich mit anderen Themen beschäftigt war. Erst als die Zerstörung eines der letzten unberührten Täler Süddeutschlands unmittelbar bevorstand, packte mich die Wut und ich begann, Genagelt zu schreiben. Während der Arbeit an dem Roman konnte ich mich mit meiner Identität und Herkunft auseinandersetzen, und mit der Sprache; ich bin schließlich oberbayerischer Muttersprachler. Das war ein sehr gewinnbringender Prozess für mich.

Kriminetz: Gibt es sonst noch Gemeinsamkeiten zwischen deinem Ermittler Freddie Deichsler und dir?

Leonhard F. Seidl: Wie Deichsler war auch ich mit meinem Sohn ein Jahr lang in Elternzeit und habe mit ihm das Isental erkundet. Allerdings stößt Deichsler mit seinem Sohn David in Genagelt natürlich auf ganz andere Herausforderungen, muss nicht nur in einem Mordfall ermitteln, sondern sich auch noch durch einen Wust an Vorurteilen, Amigos und Korruption kämpfen. So, jetzt muss ich aber wieder zurück an meinen Schreibtisch: Freddie Deichsler hat einen neuen Fall zu klären und sein Sohn David muss gewickelt werden.

Vielen Dank, Leonhard F. Seidl, für die Beantwortung der Fragen.

Link zur Website von Leonhard F. Seidl:www.textartelier.de