Sieben Fragen an Orkun Ertener

Das Foto zeigt Orkun Ertener. Foto: © Jürgen Schmid, Kriminetz

Orkun Ertener ist bislang hauptsächlich als Drehbuch-Autor in Erscheinung getreten. Er hat neben anderem für einige Folgen der Reihe TATORT Drehbücher geschrieben. Für die Reihe KDD-Kriminaldauerdienst wurde er mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Für das Drehbuch "Tatort - In der Falle" erhielt er den Civis-Medienpreis. 1991 und 1992 bekam er den Preis des Jungen Literaturforums Hessen.
Der Schriftsteller, der seit seinem fünften Lebensjahr in Deutschland lebt und Neuere deutsche Literatur und Medien studierte sowie Lehrbeauftragter am Medienwissenschaftlichen Institut der Universität Marburg war, veröffentlicht nun nach zahlreichen Fernseh-Drehbüchern einen Kriminalroman. In Lebt wird ein Ghostwriter, der die Autobiographie einer Schauspielerin schreibt, mit einer veränderten Sicht auf seine eigene Familiengeschichte konfrontiert. Er kommt einem Verbrechen auf die Spur, das auch die Familie der Schauspielerin berührt. Die beiden beginnen gemeinsam zu recherchieren. „Lebt“ erscheint im Fischer-Verlag.
Der Autor lebt mit seiner Familie in Köln.

Für Kriminetz beantwortete Orkun Ertener sieben Fragen.

Kriminetz: Einen Roman zu schreiben ist etwas gänzlich anderes als ein Drehbuch. Ihre Phantasie wird weder durch ein Budget noch durch einen Regisseur begrenzt, der sich einzelne Figuren vielleicht ein wenig anders vorstellt und dies zur Diskussion stellt. Hat diese schreiberische Freiheit so richtig Spaß gemacht?

Orkun Ertener: Diese Freiheit hat Spaß gemacht, ja, aber unter allzu großer Unfreiheit habe ich auch in meiner Arbeit als Drehbuchautor nicht gelitten, und dieser Aspekt war nicht das Hauptmotiv, einen Roman zu schreiben. Zu dieser sicher größeren Freiheit beim Prosaschreiben gesellen sich auch die größere Verantwortung, die ein Romanautor hat, und die größere Aufmerksamkeit auf seine Person. Man ist nicht Teil eines Gewerketeams, das einen Film gemeinsam ins Leben ruft, sondern hält für alle Stärken und Schwächen des Ergebnisses den Kopf allein hin. Es gibt aber tatsächlich eine Freiheit, die ich sehr genossen habe: die sprachliche Freiheit, das Erzählen jenseits eines fest definierten neunzig- oder fünfundvierzigminütigen Kontextes, die Arbeit an Sprache, die der Zuschauer im Film in direkter Weise „nur“ in den Dialogen zu hören bekommt.

Kriminetz: In „Lebt“ soll Can Evinmann die Autobiographie einer Schauspielerin, die eigentlich ausgebildete Ärztin ist, schreiben. Wollten Sie das Genre Film wenigstens erwähnen?

Orkun Ertener: Ich glaube und hoffe, der Beruf der Figur Anna, ihre beiden Berufe, sind passend für die Geschichte. Eine dezidierte Absicht, am Rande Filmgeschichten zu erzählen, hatte ich nicht.

Kriminetz: Welchen Weg hat das Thema der sephardischen Juden von Thessaloniki genommen, um zu Ihnen zu kommen?

Orkun Ertener: Es war das Thema der „Dönme“ – der Anhänger des im 17. Jahrhunderts aufgetretenen jüdischen Messias Sabattai Zwi - , auf das ich vor über zehn Jahren ganz zufällig gestoßen bin: die Geschichte einer mehr oder weniger heimlichen Glaubensgemeinschaft, die über 200 Jahre lang nach außen als Moslems lebte, aber innen weiter den Geboten ihres Messias folgte, eine hochmoderne Gruppe, in der die bewusste Regelüberschreitung eine wesentliche Rolle spielte. Diese Leute hatten ihre Hochburg im osmanischen Saloniki, in dem wiederum die Juden die Bevölkerungsmehrheit hatten und in einer sehr freien, nahezu diskriminierungsfreien gesellschaftlichen Situation über Jahrhunderte die Geschicke der Stadt bestimmt haben. Da hat in der Recherche eins zum anderen geführt. Mich haben die Fragen fasziniert, wie dieser Messias so viele Anhänger haben konnte – fast die Hälfte der gesamten damaligen jüdischen Welt, die darüber beinahe auseinanderzubrechen drohte -, wie sich diese Gemeinschaft so lange halten konnte, was hinter der mit Normübertretungen verbundenen Theologie und Philosophie, die diese Dönme so erfolgreich gemacht hat, stecken mag. Vor allem hat mich die Frage der Identität interessiert, die bewusste Spaltung von innen und außen, und die Folgen, die für die Nachfahren eine Herkunft aus einer solchen Gemeinschaft und einer solchen Kultur haben kann, wenn sie selbst nichts darüber wissen, wie dies in der Realität oft der Fall war.

Kriminetz: Can Evinman erhält neues Wissen über seine Familie und über sich selbst. Dies stellt die Gewissheit über sein bisheriges Leben auf den Kopf. Ist ein Weiterleben möglich, wenn sich die bisher wahrgenommene Realität als derart trügerisch herausstellt?

Orkun Ertener: Die Hauptfigur des Romans, die die Geschichte erzählt, findet ja eine Lösung, trifft Entscheidungen, die für ihn und seine Geschichte gültig sind. Ob sie überzeugen, muss der Leser entscheiden. Wenn ich die Frage allgemeiner beantworten soll: Ich kann mir vorstellen, dass ein derartiger Realitätsverlust wie der, den Can erlebt, dass die Lähmung, der er ausgesetzt ist, in manchen Fällen irreparabel sein kann und zu einer Aushöhlung des psychischen Erlebens führt. Identität wird lebenslang konstruiert. Wenn zu viel Bausubstanz verlorengeht, wenn die Fundamente ins Wanken kommen, kann es sicher schwierig werden, sein Leben weiterzuführen. Aber genau das ist ein unglaublich dankbarer, ergiebiger Stoff.

Kriminetz: Sie waren Lehrbeauftragter am Medienwissenschaftlichen Institut der Universität Marburg. Wäre eine Laufbahn an der Universität nicht auch attraktiv gewesen?

Orkun Ertener: Ich habe mit den Seminaren in Marburg seinerzeit auf Bitte meines ehemaligen Professors, der damals ein wenig mehr Praxisbezug ins medienwissenschaftliche Studium bringen wollte, erst angefangen, als ich schon als Drehbuchautor gearbeitet habe. Auch heute unterrichte gelegentlich an Filmschulen und das sehr gern. Aber für eine akademische Laufbahn hätten mir alle Voraussetzungen gefehlt, nicht zuletzt die Geduld mit der Verschulung und mathematisch geregelten Organisation des Studiums, die ja auch geisteswissenschaftliche Fächer betrifft. Meine älteste Tochter, die bereits studiert, bedauere ich jedenfalls sehr, wenn ich ihre heutige Situation mit meinen eigenen Erfahrungen während des Studiums vergleiche.

Kriminetz: Dürfen sich die Fernsehzuschauer noch mal auf so etwas erfrischend aus dem Rahmen Fallendes wie den „KDD-Kriminaldauerdienst“ freuen?

Orkun Ertener: Da bin ich fast sicher, dass sie sich darauf freuen können, im Moment scheint auf Macherseite auch in Deutschland eine Art Aufbrauchstimmung zu herrschen, was frischeres serielles Erzählen im Fernsehen betrifft. Ich bin mir allerdings nicht sicher, dass irgendetwas davon aus meiner Feder stammen wird. Ich bin, wenn ich es auf den Punkt bringen soll, recht glücklich mit meiner Arbeit, wie sie in den letzten beiden Jahren war.

Kriminetz: Der Name des Drehbuch-Autors ist im Abspann eines Filmes oft nur für besonders flinke Augen zu lesen. Vermutlich konnten Sie sich die meiste Zeit über unerkannt bewegen. Freuen Sie sich jetzt auf direkte Begegnungen mit ihrem Publikum, etwa im Rahmen von Lesungen? Auch wenn gilt: „Heutzutage raunt Publikum nur selten“?

Orkun Ertener: Da freue ich mich sehr darauf. Ich hatte auch in meiner Fernseharbeit immer wieder das Glück (selten auch das Pech), mit nichtprofessionellem Publikum ins Gespräch zu kommen, aber sicher ist die Situation einer Lesung eine ganz andere, ebenso wie die Begegnung mit Menschen, die sich über Tage der Zumutung ausgesetzt haben, die vielen Seite zu lesen, die man geschrieben und wie eine Flaschenpost auf den Weg gebracht hat. Ich bin sehr gespannt.

Vielen Dank, Orkun Ertener, für die Beantwortung der sieben Fragen.