Der Schriftsteller Raoul Biltgen wurde 1974 in Luxemburg geboren. 1993 erfolgte der Umzug nach Wien, wo er später eine Schauspielausbildung absolvierte. Er war Ensemblemitglied am Landestheater Bregenz, anschließend Dramaturg am Theater der Jugend Wien. Seit 2003 ist er freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Theatermacher. Seit 2015 ist Raoul Biltgen zusätzlich als Psychotherapeut bei der Männerberatung Wien und in der Justizanstalt Sonnberg tätig.
Seine knapp 50 Theaterstücke wurden bisher in Europa, Mexiko und China gespielt. Er ist Autor mehrerer Bücher (zuletzt »Adam spricht«) und zahlreicher Kurzgeschichten sowie Preisträger des niederländisch-deutschen Kinder- und Jugenddramatikerpreises 2017. Raoul Biltgen ist 2021 bereits zum fünften Mal für den Glauser nominiert: 2014, 2017, 2020 und 2021 für den besten Kurzkrimi, 2018 für den besten Kriminalroman.
Im Jahr 2021 wurde er schließlich mit dem Glauser-Preis für den besten Kurzkrimi ausgezeichnet. Der Text trägt den Titel Der ruhende Pol und ist erschienen in »Les Cahiers Luxembourgeois«.
Für Kriminetz beantwortete Raoul Biltgen sieben Fragen.
Kriminetz: Glückwunsch zum Glauserpreis in der Kategorie Kurzkrimi! Mal ehrlich, hattest du nach insgesamt fünf Nominierungen damit gerechnet, den Preis tatsächlich zu erhalten?
Raoul Biltgen: Einerseits habe ich mir schon gedacht, dass jemand, der fünf Mal für einen Preis nominiert wurde, diesen Preis auch irgendwann mal gewinnen muss. Es gibt immerhin nur sehr wenige Autor*innen, die so oft die Chance auf diesen Preis hatten, wie ich. Andererseits hat sehr vieles dagegen gesprochen. Das, was ich schreibe, ist schon »speziell«. Es ist nicht immer leicht zu lesen, das weiß ich. Auch in der Jurybegründung zur Nominierung in diesem Jahr stand, dass man schon geduldig sein muss bei dem Text, weil da sehr lange nicht wirklich was passiert. Und wer ist heutzutage schon noch geduldig?
Es ist nicht unbedingt das, was man bei einem Krimi erwartet. Ich hatte bei den ganzen Nominierungen, auch bei der für den Roman, immer den Eindruck, dass die Jurys meinen: Das ist schon gut, was der da macht, das müssen wir honorieren, wir wollen ein Statement setzen, dass auch außergewöhnlichere Herangehensweisen, wenn sie gut gemacht sind, Aufmerksamkeit bekommen sollen, dass es wichtig ist, neue Wege zu gehen, aber für den Preis … da nehmen wir doch lieber etwas, das ebenfalls gut ist, aber zusätzlich doch mehr irgendwelchen möglichen Erwartungen entspricht und dadurch auch weniger kontroversiell ist.
Ich weiß, dass immer mal wieder darüber diskutiert wird, ob das, was eher so in die Richtung geht, was ich mache, überhaupt ein Krimi ist. Als mein erster Roman 2005 erschien, sagte ich selbst: Das ist kein Krimi. Erst später bin ich draufgekommen, dass es sehr wohl einer war, nur eben anders. Manche nennen das dann »literarischen Krimi«, womit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass in diesen Texten auch Wert auf die »literarische Qualität«, auf Sprache, Dramaturgie usw. gelegt wird. Ich glaube aber, dass das nicht richtig ist, denn alle Krimis sind Literatur, also literarisch, ich spreche deswegen auch lieber von Kriminalliteratur, nur ist der Fokus nicht immer der gleiche. Manche legen Wert auf das »Was«, also die Story, den Kriminalfall, andere auf das »Wie«,also die Art und Weise, wie eine Geschichte erzählt wird. Ich sage immer, mir geht es ums »Wer«, also: Über wen möchte ich etwas erzählen, und Story und Erzählweise haben sich dem unterzuordnen.
Aber wenn ich lese, möchte ich manchmal auch einfach nur gut unterhalten werden, dann muss ein Krimi spannend sein, und aus. Ich glaube auch, dass ich schon »einfachere« Texte geschrieben habe als »Der ruhende Pol«, also ich habe mir in anderen Jahren wesentlich größere Chancen auf den Preis ausgerechnet als gerade heuer. Aber das ist das Schöne: Man weiß es nicht. Mal wird man negativ überrascht, mal positiv.
Kriminetz: Das Preisgeld für diesen Glauser-Preis beträgt 1000 Euro. Gönnst du dir dafür etwas Bestimmtes?
Raoul Biltgen: Eigentlich wollte ich das Preisgeld einfach nur weglegen, weil ich auf eine Auswanderung ans Meer spare. Dann aber hat mir eine Kollegin, die den Preis vor zwei Jahren gewonnen hat, die gleiche Frage gestellt, sie habe sich einen sehr schönen Füller gekauft. Zufällig habe ich mir am Tag der Preisverleihung, also noch bevor ich wusste, dass ich gewinne, einen sehr teuren Kugelschreiber bestellt, und hatte ein schlechtes Gewissen deswegen. Jetzt denke ich mir: Das ist es, was ich mir gönne, meinen ganz eigenen Glauser-Kuli. Und den werde ich dann auch noch nutzen, wenn ich irgendwann am Meer sitze und mir überlege, was ich schreiben könnte, um mal wieder für den Glauser nominiert zu werden. Zum zehnten Mal. Oder zum zwanzigsten.
Kriminetz: Neben vielen Romanen hast du immer wieder Kurzgeschichten veröffentlicht. Was reizt dich an der kurzen Form besonders?
Raoul Biltgen: Dass es schnell geschrieben ist. Das macht weniger Angst. Nicht falsch verstehen: Auch einen Roman zu schreiben, macht Spaß, es ist etwas, das irgendwann raus will und muss, aber wenn ich mir so überlege, einen Roman zu schreiben, ein paar Hundert Seiten, das macht auch Angst. Es ist immer wieder die Frage, ob ich das überhaupt schaffe. Ob das nicht unglaublich anstrengend ist. Ist es.
Eine Kurzgeschichte braucht recht wenig Vorlaufzeit, und wenn ich mich mal hinsetze, ist das Ding auch schnell geschrieben. Und wenn ich es dann nicht gut finde, ist nicht viel verloren, mach ich’s halt neu. Wobei das sehr selten passiert. Aber es passiert wahrscheinlich deswegen so selten, weil der Druck, den ich mir vielleicht beim Roman mache, bei der Kurzprosa kaum zu spüren ist. Und das ist die beste Voraussetzung, dass etwas gut werden kann. Und dann ist es auch so, dass es irgendwann angefangen hat, dass ich immer wieder Aufträge vor allem für Kurzkrimis bekomme. Das finde ich super, weil damit immer eine ganz spezielle Herausforderung verbunden ist.
Die Anthologien haben ja immer ein Thema, abgesehen davon dass es Krimis sein sollen. Mal ist es der Ort, wo die Geschichte spielt, dann die Zeit, zum Beispiel Weihnachten, dann wieder was anderes. Das macht mir Spaß, mir auszudenken, wer gerade dann, gerade dort, gerade zu diesen oder jenen Bedingungen irgendwo unterwegs und was dessen Geschichte sein könnte. Und das geht auch locker ein paar Mal im Jahr. Das wäre für einen Roman viel zu aufwändig.
Kriminetz: In »Der ruhende Pol« sitzt ein Mann auf einer Bank und beobachtet die anderen. Was zunächst unspektakulär erscheint, wendet sich plötzlich, als der Mann selbst in den Fokus gerät. Was war der Auslöser zur Idee für deinen preisgekrönten Text?
Raoul Biltgen: Ich habe absolut keine Ahnung mehr. Es ist nämlich so: Ich habe die erste Fassung für diesen Text vor etwa zehn Jahren geschrieben. Und dann lag der Text ewig in der digitalen Schublade, bis ich ihn letztes Jahr wieder hervorgeholt habe und selbst überrascht war, was dieser Mann da auf der Bank macht. Natürlich habe ich den Text stark überarbeitet, vor allem das Ende, aber im Grunde ging es mir fast wie jedem anderen Menschen, der die Geschichte zum ersten Mal liest:Ich war gespannt, was passiert. Ich habe in der gleichen Zeit, als ich den Text wieder hervorgekramt hatte, noch andere alte Texte wieder angeschaut, die ich aber weit nicht so gut fand. Dabei waren andere in meiner Erinnerung besser. So kann man sich irren. Mal sehen, was ich selbst von dieser Geschichte halte, wenn ich sie in zehn Jahren nochmal lese. Grundsätzlich gibt es eher selten besondere Auslöser, dass ich etwas schreibe. Das entwickelt sich eher still und heimlich in mir, bis ich es selbst bemerke und darüber schreibe.
Kriminetz: Du übst mehrere Berufe aus, den des Schriftstellers, Schauspielers und des Psychotherapeuten. Welcher ist dir selbst am nächsten?
Raoul Biltgen: Emotional am nächsten ist mir das Schreiben. Das ist meine Leidenschaft. Das ist das, was ich auch noch in dreißig Jahren machen können will. Am meisten Zeit aber investiere ich den Job als Psychotherapeut. Das ist von all meinen Berufen derjenige, den ich als letztes ergriffen habe. Und obwohl ich das nun auch schon seit einigen Jahren mache, habe ich das Gefühl, das befindet sich noch im Aufbau. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass man dann immer wieder Fortbildungen machen muss, um am Ball zu bleiben.
Auch zum Schreiben muss man offen bleiben, um was Neues zu lernen, aber da hat es nichts Offizielles, da muss man das nur mit sich ausmachen, ob man irgendwann denkt, dass man genug gelernt hat, oder sich doch noch verändern will. Schauspieler war immer mein Traumberuf, schon als Kind habe ich das gesagt. Und dann habe ich das auch durchgezogen, habe einige Jahre hauptberuflich als Schauspieler gelebt, bis das Schreiben immer mehr und wichtiger wurde, und ich auch im Theater mehr die Jobs neben oder hinter der Bühne gemacht habe.
Seit ich Psychotherapeut bin, ist es fast nicht mehr möglich, als Schauspieler zu arbeiten. Ab und zu habe ich noch Auftritte, doch irgendwann wird auch das vorbei sein. Dass ich mich von der Schauspielerei entfernt habe, hat angefangen, als ich ein Casting für eine Werbung hatte, bei der ich eine sehr markante und wiederkehrende Werbefigur hätte spielen sollen. Ich habe die Rolle nicht bekommen, aber später habe ich mir gedacht, wenn ich das gemacht hätte, hätten mich meine Klienten in der Therapie als diese Werbefigur erkannt, und das hätte die Therapie erheblich erschwert, wenn nicht verunmöglicht.
Kriminetz: In deinem Eintrag beim Syndikat ist zu lesen, du standest unter Mordverdacht. Wie kam es denn dazu?
Raoul Biltgen: Das war im Sommer 2008. Ich habe bei einer Sommertheaterproduktion die Produktionsleitung gemacht und an einem freien Sonntag haben wir zu fünft einen Ausflug ins nicht allzu weit entfernte Dürnstein gemacht. Das ist da, wo Richard Löwenherz gefangen gehalten wurde. Liegt sehr malerisch an der Donau. Unterwegs waren wir in einem alten amerikanischen Kombi mit Fake-Holzvertäfelung an den Seiten, also ein eher ungewöhnliches Auto. In Dürnstein muss man das Auto vor der Stadt stehenlassen, weil das alles Fußgängerzone ist. Das haben wir gemacht.
Und als wir nach ein paar Stunden wieder zum Auto zurückgekommen sind, stand da ein Polizist, der sehr offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, dass die Besitzer des Wagens wieder auftauchen. Wir wurden also angehalten und befragt, was wir da tun usw. Der Polizist war sichtlich angespannt, wollte uns aber nicht sagen, warum wir nicht weiterfahren durften. Erst Stunden später, nachdem wir mit zur nächsten Wache mussten, wir fotografiert wurden, das Auto auch, die Personalien aufgenommen, wie man sich das halt so vorstellt, wurde uns mitgeteilt, dass es nun geklärt sei.
Und zwar: Kurz zuvor am gleichen Tag wurde in einer nahegelegenen Stadt ein Doppelmord begangen, und der*die Täter*in war mit einem Auto geflohen, dessen Beschreibung genau auf unseres passte. Die Annahme war wohl, dass der*die Täterin am Parkplatz vor Dürnstein das Fahrzeug gewechselt haben könnte. Während der ganzen Geschichte trug ich übrigens ein Kapuzenshirt, welches Merchandising für meinen ersten Roman war, dessen Titel »perfekt morden« lautete. Das stand also auf meinem Rücken, während der Polizist dachte, ihm stünden da fünf Mörder gegenüber. Und im Handschuhfach lag eine Theaterpistole vom Stück, das wir spielten. Da hat aber niemand reingeschaut.
Kriminetz: Wohin würdest du Gäste bei einer Stadtführung durch Wien unbedingt führen?
Raoul Biltgen: Ganz ehrlich, das ist jetzt die schwerste Frage. Viele wollen ja die offensichtlichen Attraktionen sehen, Stephansdom, Prater, Schönbrunn. Das sind dann die Dinge, die auch ich nur dann sehe, wenn ich einen Gast in Wien dorthin führe. Aber es gibt auch abgelegenere Punkte, wo ich gerne mal mit dem Hund spazieren gehe, die für Touristen unerwartet nett sein können, etwa in den Weinbergen nordwestlich der Stadt, wo es sehr schön und ruhig ist, und man plötzlich unverhofft einen Blick über Wien geboten bekommt, da kann das Riesenrad oder der Donauturm einpacken.
Kriminetz: Vielen Dank, Raoul Biltgen, für die Beantwortung der sieben Fragen.
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