Das Wiesbadener Krimistipendium

Der Wiesbadener Autorenstammtisch “Dostojewskis Erben” mit dem diesjährigen Krimistipendiaten Wolfgang Schorlau zu Besuch im Polizeipräsidium Westhessen am 22.3.2016. Das Foto wurde freundlicher Weise von Alexander Pfeiffer zur Verfügung gestellt.

Text von Alexander Pfeiffer

Krimipreise gibt es mittlerweile so einige in Deutschland. Wiesbaden dürfte allerdings die einzige Stadt sein, die alljährlich ein Krimistipendium vergibt. Wer anderes weiß, der möge mich bitte korrigieren. Dabei ist auch dieses Stipendium so etwas wie ein Preis, eine Auszeichnung auf jeden Fall. Denn nicht nur darf der jeweilige Stipendiat vier Wochen in der Hessischen Landeshauptstadt verbringen und eines der Autorenapartments unter dem Dach des prunkvollen Literaturhauses Villa Clementine als Wohnstätte und Arbeitsplatz nutzen, das ganze ist auch noch mit 4.000 Euro dotiert.

Im Gegenzug verpflichtet sich der Wiesbadener Krimistipendiat, einen von seinem Aufenthalt inspirierten Wiesbaden-Kurzkrimi zu schreiben und in der Jury des Deutschen FernsehKrimi-Festivals mitzuwirken, das jedes Jahr im März in der städtischen Filmbühne Caligari stattfindet und aus jeweils zehn deutschsprachigen Fernsehkrimiproduktionen den Gewinner des Deutschen FernsehKrimi-Preises ermittelt.

Erstmals vergeben wurde das Wiesbadener Krimistipendium 2009. In den ersten drei Jahren firmierte es auch unter dem Namen „Trio Mortale“ – waren es zu jener Zeit nämlich jeweils drei deutschsprachige Krimiautorinnen und -autoren, die zeitgleich in Wiesbaden weilten, und zwar im Mai. Im Premierenjahr logierten so Tatjana Kruse, Mitra Devi und Michael Kibler als Krimi-WG im Wiesbadener Literaturhaus, 2010 waren es Regula Venske, Anni Bürkl und Horst Eckert, 2011 Beate Maxian, Brigitte Glaser und Rainer Würth. Um die Betreuung des „Trio Mortale“ kümmerte sich jeweils Richard Lifka.

2012 erfolgte die Neuausrichtung und die Verschiebung des Aufernthalts in den März, um das Wiesbadener Krimistipendium mit dem Deutschen FernsehKrimi-Festival zu verknüpfen. Erster Wiesbadener Krimistipendiat unter neuen Vorzeichen war Stefan Slupetzky. Ihm folgten Andrea Maria Schenkel (2013), Doris Gercke (2014), Wolfgang Brenner (2015) und in diesem Jahr Wolfgang Schorlau. Seit der Neuausrichtung ist es meine Aufgabe, für die Stipendiaten ein Begleitprogramm zum Stipendium zu organisieren, das sich nach ihren jeweiligen Wünschen und Interessen richtet und ihnen dabei helfen soll, Material für ihren Wiesbaden-Kurzkrimi zu recherchieren, den sie bei einem erneuten Besuch in der Stadt einige Monate später in einer Lesung präsentieren.

Wolfgang Brenner, der Stipendiat des letzten Jahres, fand den Tatort für seinen Wiesbaden-Krimi letztlich auf der Schiersteiner Brücke, die über den Rhein nach Mainz führt und während seines Aufenthalts im März 2015 aufgrund von Bauschäden und wochenlanger Vollsperrung ein Dauerthema in den Medien war. Wovon sein Nachfolger Wolfgang Schorlau sich hat inspirieren lassen, ist im Moment noch nicht zu sagen. Immerhin ist in seinen Romanen um den privaten Ermittler und ehemaligen BKA-Zielfahnder Georg Dengler eine Spur nach Wiesbaden aber bereits gelegt. Befindet sich doch die Behörde, aus der Dengler im Unfrieden schied, just in der Stadt, die Schorlau für vier Wochen beheimatete.

Und natürlich haben wir während dieser vier Wochen auch dem BKA einen Besuch abgestattet. In der Abteilung Shwere und Organisierte Kriminalität bekam der Stuttgarter Autor, dessen aktueller Roman „Die schützende Hand“ um die Thematik der NSU-Morde kreist, Gelegenheit, Recherche für einen möglichen nächsten Roman zu betreiben. Das Thema hatten ihm eifrige Leserinnen angetragen, Schorlau stieß es im Gespräch mit den Ermittlern erstmal auf. Krimiautoren mögen ja als hartgesotten gelten, hier sorgte die nackten Fakten sowie die Milieuschilderungen aber doch für Ekel: „Ich glaube, darüber schreibe ich kein Buch“, erklärte Schorlau irgendwann im Laufe des Vormittags, kopfschüttelnd von seinen Notizen aufsehend. Worum es ging? Lesen Sie den nächsten Schorlau! Ich tippe mal, dass ihn das Thema dann doch so schnell nicht mehr loslässt.

Neben dem Besuch im BKA durfte ich Wolfgang Schorlau auch in den Hessischen Landtag, die Wiesbadener Spielbank und ins Polizeipräsidium Westhessen führen. Wo wir auch hinkamen, seine Leser waren schon da. Die Dengler-Krimis werden von den Mitarbeitern der Polizei und Politik offensichtlich sehr genau gelesen. Und die Gelegenheit, den Autor persönlich zu treffen, wollten sich weder der Direktor des Landtags noch der Polizeipräsident entgehen lassen.

Georg Dengler dürfte derzeit der politischste Privatdetektiv der deutschen Kriminalliteratur sein. Von seinem Schöpfer ist bekannt, dass seine Recherchen das Ausmaß von Ermittlungsarbeit annehmen können. Nicht zuletzt wurde er aufgrund der Vorarbeiten zum aktuellen Roman als Sachverständiger zum NSU-Untersuchungssauschuss des Baden-Württembergischen Landtags eingeladen. Der Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags zur selben Thematik hätte ihn nur zu gerne als Gast begrüßt. Dieses Vorhaben fiel allerdings den Umständen zum Opfer: Der anberaumte Termin musste verschoben werden, weil „im Rahmen der Aktenbeiziehung für die Abarbeitung der vorliegenden Beweisanträge zu den bereits 645 vorliegenden Aktenordnern kurzfristig eine größere Anzahl von weiteren Ordnern eingetroffen ist“. Zumindest die Stahlschränke, in den die Aktenordner lagern, ließ man uns in den Katakomben des Landtags sehen. Als Krimiautor möchte man da mit den Landtagsabgeordneten nicht unbedingt tauschen.

Wobei Wolfgang Schorlau sich selbst ja eher als Autor von Gesellschafts- als von Kriminalromanen sieht. Wer sich auf seiner Website umschaut, der findet dort auch das eine oder andere Zitat, das ganz gut dazu passt. Zum Beispiel dieses hier von Arthur Schopenhauer: „Kriminalgeschichten muss man lesen, um zu erkennen, was, in moralischer Hinsicht, der Mensch eigentlich ist.“

Wie man zum Autor von „Gesellschaftsromanen“ wird? Bei Wolfgang Schorlau lief es so: Er wurde 1951 in Idar-Oberstein geboren. Nach dem Tod des Vaters wuchs er in einem Waisenhaus in Freiburg auf, ging bei einem Elektrogroßhändler in die Lehre und zog anschließend nach Berlin, wo er ursprünglich Soziologie studieren wollte. Stattdessen ließ er sich bei Nixdorf zum Programmierer ausbilden und machte sich schließlich mit einer Software-Firma in Ludwigsburg selbstständig. Sein erstes Buch erschien Mitte der 90er Jahre und hatte mit Krimi oder Gesellschaftsromanen noch so gar nichts gemein: „Der PC im galvanischen Betrieb“, ein Sachbuch für die IT-Branche. Mit fast 50 Jahren machte er aber schließlich doch noch seinen Kindheitstraum vom Schreiben war, stieg aus der Firma aus und wurde Schriftsteller. 2003 erschien sein erster Kriminalroman „Die blaue Liste“. 2006 wurde er mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet.

Vielleicht erklärt ja diese abwechslungs- und wendungsreiche Biographie auch ein bisschen was von Wolfgang Schorlaus Blick auf die Welt und von seiner literarischen Arbeitsweise. Auf jeden Fall müsste Wiesbaden für ihn ein dankbares Pflaster gewesen sein, um hier eine Geschichte zu finden. Für ihn selbst waren die vier Wochen in der Stadt eine vergleichsweise ruhige Zeit. Seit dem Erscheinen von „Die schützende Hand“ im November 2015 hatte er sehr, sehr viele Lesungen zu absolvieren und dürfte nur sehr wenig Zeit zu Hause in Stuttgart verbracht haben. Umso mehr freute man sich in Wiesbaden, ihn einen ganzen Monat lang zu Gast zu haben. „Das hat mir ganz gut gefallen hier“, sagte er zum Abschied. Und: „Jetzt geht der normale Wahnsinn wieder los.“ Gemeint ist: die Lesetour mit der „schützenden Hand“. Die Termine reichen bis in den Juni, eine Ende vorerst nicht absehbar. Ich hoffe, er findet irgendwann die Zeit, seine Wiesbadener Eindrücke sacken zu lassen. Und seinen Wiesbaden-Kurzkrimi zu Papier zu bringen. Wir in der Stadt hier warten schon jetzt auf seine Geschichte und auf seine Rückkehr im Herbst.

Infos zum Wiesbadener Krimistipendium findet ihr hier!