Sieben Fragen an Tim Pieper

Das Foto zeigt Tim Pieper. Foto: © Tim Pieper

Tim Pieper hat mit Mord unter den Linden einen Kriminalroman aus der Anfangszeit der Kriminologie veröffentlicht. Und in Berlin lebt der Schriftsteller auch, der im „Alten Land“ geboren wurde. In seinem spannenden Roman wendet der leidenschaftliche Fahrradfahrer Dr. Otto Sanftleben Ergebnisse der Kriminologie bei der Lösung eines heiklen Falles an.
2010 veröffentliche Tim Pieper seinen ersten Roman im Heyne-Verlag, Der Minnesänger.
Tim Pieper studierte Neuere und Ältere deutsche Literatur und Recht, er ist Mitglied im Autorenkreis historischer Roman Quo Vadis und in der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur Syndikat.

Für Kriminetz beantwortete Tim Pieper sieben Fragen.

Kriminetz: Was hat dich auf die Idee gebracht, einen Kriminalroman über die Anfangszeit der Kriminologie zu schreiben?

Tim Pieper: Für „Mord unter den Linden“ habe ich nach Themen gesucht, die dem Leser neue Kenntnisse über das Kaiserreich vermitteln können. Jeder halbwegs interessierte Laie dürfte wissen, dass am Ende des 19. Jahrhunderts bereits ein gut strukturierter Polizeiapparat in Preußen seinen Dienst versah und das Verbrechen bekämpfte, aber nur wenige dürften darüber informiert sein, dass die Kriminologie bereits ein wachsender Wissenschaftszweig war. So hat es mich gereizt, einen Kriminologen der ersten Stunde als Ermittler zu installieren, den es in dieser Ausprägung im Histokrimigenre noch nicht gab.

Kriminetz: Der Kriminologe in deinem Roman heißt Dr. Otto Sanftleben. Gab es für ihn ein reales Vorbild in der Geschichte?

Tim Pieper: Im Laufe des Romans zieht Dr. Otto Sanftleben die Forschungsergebnisse von Kriminalanthropologen, Kriminalstatistikern und Kriminalpsychologen zu Rate. Bei seinem eigenen Forschungsansatz habe ich mich u. a. durch den österreichischen Kriminologen Hans Gross (1847 – 1915) inspirieren lassen, der in seiner Tätigkeit als Staatsanwalt und Untersuchungsrichter jahrelang Angeklagte und Zeugen beobachtete, um die Psychologie von Aussagen zu studieren. Insofern ist Dr. Otto Sanftleben nicht nur an eine konkrete historische Gestalt angelehnt, sondern er verkörpert auch die unterschiedlichen wissenschaftlichen Strömungen seiner Zeit.

Kriminetz: Otto Sanftleben ist leidenschaftlicher Fahrradfahrer. Und in Berlin war das Zweiradfahren damals verboten?

Tim Pieper: 1890 spaltetet der Radsport die Gesellschaft in zwei Lager – die begeisterten Befürworter und die erbitterten Gegner. Dr. Otto Sanftleben zählt zu den leidenschaftlichen Anhängern, was auch seinen modernen Charakter widerspiegeln soll. Der Berliner Innenstadtbereich war damals für den Zweiradverkehr gesperrt. Es wurden u. a. sittliche Gründe angeführt, die Otto nicht gelten lassen konnte. In einer Romanszene rast er auf seinem Niederrad – verfolgt von zahlreichen Ordnungshütern – die Paradestraße „Unter den Linden“ hinunter, um ein Zeichen zu setzen und einen moralischen Sieg für die Radsportbewegung zu erringen. Ich finde, dass diese Szene viel über seine Persönlichkeit aussagt.

Kriminetz: Die kriminalanthropologischen Ergebnisse von Cesare Lombroso führen Otto Sanftleben auch manchmal in die Irre?

Tim Pieper: Der berühmte Arzt und Kriminologe Cesare Lombroso (1835 – 1919) behauptete, dass bestimmte Schädelformen und andere physische Merkmale (wie z. B. zusammengewachsene Augenbrauen) auf eine kriminelle Veranlagung schließen lassen. Mein Romanheld, Dr. Otto Sanftleben, steht diesem Ansatz äußerst kritisch gegenüber. Allerdings ist er auch ein Kind seiner Zeit und lässt Lombrosos Forschungsergebnisse manchmal als ersten Orientierungspunkt gelten. Ottos Forschungsgegenstand ist die sog. Verbrecherphänomenologie. Darunter versteht er die Untersuchung kriminalistisch relevanter Erscheinungen, die ihm Aufschluss über seelische Vorgänge des Täters geben und so die Hintergründe der Tat aufdecken können. Untersuchungsgegenstände sind u. a. die Körperhaltung, Mimik, Gestik und Kleidung. Dabei soll die Verbrecherphänomenologie keine verbindliche Merkmalslehre aufstellen, die den Anspruch auf Unfehlbarkeit erhebt, sondern als Hilfswissenschaft dienen, die Denkanstöße geben und Verdachtsmomente modifizieren kann. Otto hat zu diesem Thema ein vielbeachtetes Buch verfasst. Der raffinierte Täter hat es gelesen und versucht Otto zu manipulieren. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel auf Augenhöhe, bei der es natürlich nur einen Sieger geben kann …

Kriminetz: Deine Co-Heldin Rieke ist Schauspielerin. Bei den Recherchen ist dir etwas Außergewöhnliches passiert. Erzähl mal!

Tim Pieper: Neben den im Roman behandelten Themen wie Kriminologie, Radsport, Anarchismus, Sozialistengesetz, Sekten etc. wollte ich den behandelten Zeitraum möglichst authentisch darstellen, um ein getreues Abbild jener Tage zu zeichnen. Dazu gehörte natürlich, dass ich meine Co–Heldin, eine Schauspielerin, dem Leser bei ihrer Berufsausübung zeigen wollte. Im Juli und August des Jahres 1890, dem Handlungszeitraum des Romanes, wurde aber eine Theaterpause eingelegt, so dass in der Tagespresse kaum Stücke angekündigt wurden. "Der Nautilus" von Carl Pander bildete da eine Ausnahme. Nur war das Stück in gedruckter Fassung deutschlandweit nicht aufzutreiben. So beharrlich ich auch recherchierte, konnte ich einfach nicht herausfinden, welchen Inhalt es hatte. Ich war schon der Verzweiflung nahe, als mir ein sehr erfahrener Bibliothekar, der gleichzeitig glühender Theaterfan war, vorschlug, es mal im Landesarchiv bei den Polizeisachen zu versuchen. Und da habe ich tatsächlich die Aufzeichnungen von einem kaiserlichen Spion gefunden, der eigentlich dokumentieren sollte, ob obrigkeitsfeindliche Aussagen gemacht wurden. Zu diesem Zweck besuchte er eine Aufführung, stenografierte das Stück mit und hielt es später in Schönschrift fest, die ich mühelos lesen konnte. Endlich wusste ich, welchen Inhalt das Stück hatte und konnte meiner Co-Heldin eine Rolle zuweisen. Dass die Mitschrift einem Romanautor des 21. Jahrhundert mal dienlich sein würde, hätte der kaiserliche Spion ganz sicher nicht für möglich gehalten. Deshalb habe ich ihn - als kleines Dankeschön - in das Theaterkapitel eingebaut.

Kriminetz: Beim Lesen deines Romanes entsteht der Eindruck, dass Ärzte damals beherzt Kokain verordneten?

Tim Pieper: Das ist richtig. Ende des 19. Jahrhunderts waren sich viele Mediziner über das hohe Gefahrenpotential von Kokain nicht im Klaren. Zunächst wurde es verschrieben, um Patienten von ihrer Morphiumsucht zu heilen. Später wurde es auch als Schmerz– und Betäubungsmittel verordnet. Zur Recherche habe ich u. a. Schriften von Siegmund Freud gelesen, der Selbstversuche unternommen, seine Erfahrungen aufgezeichnet und sie publiziert hat. Das war eine sehr interessante Lektüre, die den damaligen Zeitgeist gut widerspiegelt. Allerdings wurden in jenen Tagen auch zunehmend Stimmen von kritischen Medizinern laut, die den seelischen und körperlichen Verfall von Süchtigen beobachtet hatten und vor dem Konsum nachdrücklich warnten.

Kriminetz: Wird es einen weiteren Fall mit Dr. Sanftleben geben?

Tim Pieper: Der zweite Fall erscheint im Oktober 2013 und heißt „Mord im Tiergarten“. Die Handlung ist im Juni 1896 angesiedelt, also sechs Jahre nach dem ersten Fall. Zu diesem Zeitpunkt fand in Berlin die „Deutsche Colonialausstellung“ statt, die den historischen Rahmen bildet. Während der Ermittlungen wird Otto mit dem aufkeimenden Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus konfrontiert. Durch die Bekanntschaft mit einer Malerin erhält er Einblicke in die damalige Kunstszene. Und er tritt wieder bei einem sportlichen Wettkampf, einer Segelregatta auf dem Wannsee, an. Der Leibdiener Moses und Commissarius Funke haben wieder tragende Rollen. Es geht ein brutaler Mörder um, der einen wahnsinnigen Plan verfolgt. Der Roman zeichnet ein vielschichtiges und buntes Panaroma des Kaiserreichs. Ich hoffe sehr, dass sich die Leser wieder so gut und spannend unterhalten fühlen wie beim ersten Teil.

Kriminetz: Vielen Dank, Tim Pieper, für die Beantwortung der Fragen.

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