Kinder sollten eigentlich von der Gesellschaft, in der sie leben, beschützt werden. Das Verschwinden eines Kindes ist ein besonders grauenhaftes Verbrechen, verübt an jemand Schutzbedürftigem, der keine Chance hat, die drohende Gefahr zu erkennen, ihr auszuweichen oder sich zu wehren. Im Fall der damals neunjährigen Peggy gibt es keine Gewissheit, was aus dem vermissten Mädchen wurde. Es gibt keine Leiche, keine Spuren, nichts – Peggy ist einfach nicht mehr da. Am 7. Mai 2001 verschwand sie und dieses Verschwinden hinterließ ein großes Rätsel.
Obwohl es keine Zeugen für einen Mord gibt und vor allem keine Leiche, wurde ein Mörder gefunden. Ulvi Kulac, geistig zurückgeblieben, wird nach einem Indizienprozess wegen Mordes verurteilt. Die beiden Journalisten Ina Jung und Christoph Lemmer haben in akribischer Arbeit Fakten recherchiert und zeigen auf, wie ihrer Ansicht nach gezielt auf die Verurteilung des damals 24-Jährigen hingearbeitet wurde.
Ina Jung befasst sich seit Jahren mit dem Fall des verschwundenen Mädchens aus dem oberfränkischen Lichtenberg und damit, warum ein möglicherweise Unschuldiger verurteilt wurde. Gemeinsam mit Friedrich Ani verfasste sie das Drehbuch zu dem Film Das unsichtbare Mädchen, der unter der Regie von Dominik Graf umgesetzt wurde. Ina Jung und Friedrich Ani wurden 2012 mit dem Bayerischen Fernsehpreis für dieses Drehbuch ausgezeichnet. Ina Jung arbeitet als Journalistin, Regisseurin und Filmautorin.
Christoph Lemmer, mit dem sie gemeinsam das Buch Der Fall Peggy. Die Geschichte eines Skandals recherchierte und schrieb, arbeitet als Journalist für Printmedien und Hörfunk. Christoph Lemmer hat für Antenne Bayern bereits über den Fall Peggy eine mehrteilige Exklusiv-Reportage produziert.
Für Kriminetz beantworteten Ina Jung und Christoph Lemmer sieben Fragen.
Kriminetz: Sie beschäftigen sich seit einigen Jahren mit dem Fall Peggy. Was war das damals, das Sie dazu gebracht hat, sich mit diesem Fall auseinanderzusetzen?
Ina Jung: Ein früherer Ermittler hat mich dazu gebracht. Er gehörte zur ersten Sonderkommission, die versuchte, Peggys Schicksal aufzuklären. Er hat sich bei mir gemeldet, nachdem der geistig minderbemittelte Ulvi Kulac wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der Polizist hielt dieses Urteil für falsch und Ulvi für unschuldig. Und das fand ich schon ziemlich bemerkenswert – dass ein Polizist mir erzählt, dass er das Mordurteil in einem Fall für falsch hält, an dem er selber mitgearbeitet hat. Und tatsächlich war das ja auch ein merkwürdiges Urteil – angefangen damit, dass es in diesem Mordprozess keinen Beweis und keine Leiche gab.
Kriminetz: Kann man die Frage, warum damals unbedingt ein „Mörder“, auch ohne Leiche, präsentiert werden sollte, beantworten? Die Ungewissheit über den Verbleib des Mädchens wurde damit ja in keiner Weise geklärt.
Ina Jung: Das war ja das Irritierende. Nach dem Kind wurde offenbar nicht mehr aktiv gesucht. Der Druck seitens der Medien war massiv, der bayerische Innenminister Beckstein unzufrieden und ungehalten und die Ermittlungen führten immer wieder in eine Sackgasse. Der Fall ist extrem undurchsichtig. Beckstein hatte einen Ermittler bei der Hand, der solche Fälle offenbar gern und schnell löst.
Kriminetz: Es gab eine Spur im Fall Peggy, die nach Sachsen-Anhalt führte. Als Leser Ihres Buches kann man sich nicht erklären, weshalb diese Spur nicht weiter verfolgt wurde. Was könnte ein Grund dafür sein?
Christoph Lemmer: Die Ermittler haben diese Spur offenbar nicht mehr benötigt, um den Fall abzuschließen. Sie hatten das Geständnis von Ulvi Kulac. Die Polizei hatte damit einen Beschuldigten, die Staatsanwaltschaft einen Angeklagten, das Gericht konnte ein revisionsfestes Urteil fällen und die Politik einen weiteren prominenten Fall als geklärt verbuchen. Die Spur nach Ostdeutschland wäre wieder mit viel Zeit und Aufwand verbunden gewesen, und das wollten die Ermittlungsbehörden wohl vermeiden. Es waren immerhin schon drei Jahre seit Peggys Verschwinden ins Land gegangen.
Kriminetz: Sie haben bei Ihrer Recherche Menschen befragt, die angaben, von der Polizei nachträglich zum Ändern ihrer Zeugenaussagen aufgefordert worden zu sein. Beispielsweise die beiden jungen Männer, die sagen, sie hätten damals als Buben Peggy zu einem späteren Zeitpunkt, der nicht zu dem Zeitfenster des Mordes passt, gesehen. Ihr Buch ist vor einigen Tagen erschienen. Gibt es eine Reaktion von einer öffentlichen Seite in Bayern?
Christoph Lemmer: Mehrere sogar. Wir hören von Ermittlern aus mehreren Behörden, dass sie das Buch gelesen haben. Einige haben uns auch diskret um Exemplare gebeten. Vor einigen Wochen hatte mich Bayerns Innenminister vor einem Interview überraschend darauf angesprochen und verraten, dass seine Mitarbeiter ihn darauf aufmerksam gemacht hätten.
Auch der Staatsanwalt, der jetzt die neuen Ermittlungen leitet, hat unser Buch gelesen. Er verfolgt – unabhängig von uns – eine Spur, auf die auch unser Buch aufmerksam macht.
Kriminetz: Hatten Sie bei Ihrer Arbeit den Eindruck, dass Ihre Recherche jemandem nicht passt oder wurde versucht, Ihnen Steine in den Weg zu legen?
Ina Jung: Das kann man so sagen. Die Ermittlungsbehörden haben die gesamte Zeit über entweder nicht oder nur ausweichend geantwortet. Die Polizei hat auf die Justiz verwiesen, die Justiz auf die Rechtskraft des Urteils. Gelegentlich hatten wir den Eindruck, dass sich die Beteiligten bei Justiz und Polizei abgesprochen haben. Es schien, als hätte der eine oder andere unseren Anruf erwartet und sich schon zurechtgelegt, wie er einer Antwort aus dem Weg geht. Also haben wir uns darauf eingestellt und sind unerwartet persönlich bei einigen Leuten aufgetaucht.
Kriminetz: In Lichtenberg gibt es eine Bürgerinitiative, die sich für eine Wiederaufnahme des Verfahrens einsetzt. Wie hoch sehen Sie die Chance, dass das Verfahren gegen Ulvi Kulac, der auch Ihrer Ansicht nach zu Unrecht verurteilt wurde, wieder aufgenommen wird?
Christoph Lemmer: Das kann niemand sagen. Einerseits ist es in Deutschland fast unmöglich, die Justiz zu einer Wiederaufnahme zu bewegen, die ja auch immer das Eingeständnis eines Fehlers ist. Andererseits halte ich für bewiesen, dass das Urteil gegen Ulvi Kulac falsch ist. Die Tat kann sich nicht so abgespielt haben, wie die Richter meinten. Vielleicht tut sich jetzt aber etwas. Man muss abwarten, wie die neue Führung der Staatsanwaltschaft Bayreuth an den Fall herangeht. Derzeit betreibt sie mit viel Energie eine Art inoffizielles Ermittlungsverfahren – trotz der Tatsache, dass der Fall offiziell rechtskräftig abgeschlossen ist.
Kriminetz: Wurde Ihr Glaube an die Rechtssicherheit aller Bürger aufgrund Ihrer Recherche ins Wanken gebracht? Beim Lesen Ihres Buches kann man den Eindruck haben, es genügt, zur falschen Zeit am falschen Ort und / oder falschen Zeugenaussagen ausgesetzt zu sein. Kann man schneller für etwas, das man nicht getan hat, in den Knast oder in die Psychiatrie wandern, als man sich das vorstellen möchte?
(Anmerkung: Im Buch „Der Fall Peggy“ werden weitere Fälle vorgestellt, so etwa im Kapitel „Gustl Mollath und (kein) Ende?“)
Ina Jung: Das kann passieren, definitiv. Wir beschreiben das ja in unserem Buch sehr detailliert. Wie verrückt und falsch es laufen kann, zeigt etwa dieses Detail: Ulvi Kulac soll Peggy auf einer Parkbank abgepasst haben. Es gab eine Zeugin, die ihn da gesehen haben will – als einzige, alle anderen Zeugen sahen ihn da nicht. Ausgerechnet diese Frau hatte persönliche Gründe, Ulvi anzuschwärzen. Wir wollen da nichts unterstellen, aber es ist schon etwas merkwürdig. Und noch merkwürdiger ist, dass Polizei und Gericht nur dieser einen Zeugin glaubten, allen anderen dagegen nicht.
Schon während der Recherche bekam ich viele Mails von Betroffenen. Jetzt erhalte ich Briefe und Anrufe von Menschen, die ihrer Meinung nach zu Unrecht in Haft saßen, in der Psychiatrie festgehalten werden/wurden und Hinweise auf die dafür Verantwortlichen geben. Das ist unheimlich.
Kriminetz: Vielen Dank, Ina Jung und Christoph Lemmer, für die Beantwortung der Fragen.
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